Rezension zum Buch „Psychologische Therapie“
[1] des Psychotherapie-Forschers Klaus Grawe
Anliegen dieser Rezension:
Das Buch "Psychologische Therapie" enthält eine
beachtliche Fülle relevanter und prägnanter Informationen aus dem Bereich der
Psychotherapieforschung, psychologischen Grundlagenforschung und
Neurowissenschaften. Grawe hat mit seinen zwei Hauptwerken „Psychotherapie im
Wandel[2]“ und
„Psychologische Therapie“ eine beispiellose wissenschaftliche Übersichtsleistung
erbracht und auf dieser Grundlage seine Konzeption einer allgemeinen,
schulenübergreifenden, empirisch und rational begründeten Psychotherapie
entworfen.
Bestechend ist Grawes wissenschaftliche und
erkenntniskritische Redlichkeit, seine ausgewogene Würdigung der verschiedenen
Ansätze unterschiedlicher Psychotherapieschulen und sein Engagement für eine
Synthese und Integration.
Man kann zu anderen Schlüssen kommen als Grawe. Aber an
seinem Werk darf keiner vorbeigehen, dem an einer ernstzunehmenden Weiterentwicklung
der Psychotherapie gelegen ist. Da das Buch nur mit beachtlichen Zeit- und
Konzentrationsaufwand gelesen werden kann, möchte ich Interessierten einen
Überblick geben, der zur Lektüre ermutigen soll.
Aufbau und Inhalt des Buches:
Im ersten Teil referiert Grawe die Ergebnisse einer Fülle
eigener und fremder Untersuchungen zur Psychotherapieforschung. Er versucht die
Frage zu beantworten, wie Veränderungen durch Psychotherapie zustande kommen.
Der zweite Teil geht auf die Beiträge der Systemtheorie[3],
Neuro- und Kognitionswissenschaften zum Verständnis des psychischen Geschehens
ein. Im dritten Teil stellt Grawe sein eigenes, empirisch begründetes
Therapiemodell einer „Allgemeinen Psychotherapie“ vor.
Ich habe versucht, den Inhalt des Buches auf eine Reihe von
Kernaussagen zu komprimieren. Diese werden durch Anmerkungen in den Fußnoten
ergänzt. Außerdem habe ich Grawes Verhältnis zur Psychoanalyse skizziert, soweit es in dem Buch
erkennbar ist. Mit einem Vergleich von Grawes Konzept einer Allgemeinen Psychotherapie
mit Peseschkians Positiver Psychotherapie und einer Zusammenfassung schließe
ich meine Betrachtung ab.
Kernaussagen:
Grawe veränderte und
modifizierte über die Jahre die Systematik und Begrifflichkeit seiner Lehre, wodurch
eine einheitlich-stringente Darstellung etwas erschwert ist. In dem Buch „Psychotherapie
im Wandel“ nannte Grawe vier grundlegende Wirkprinzipien:
1.
Ressourcenaktivierung
2.
Problemaktualisierung
3.
aktive Hilfe zur Problembewältigung
4.
therapeutische Klärung der Motivationen des
Patienten.
In dem Buch „Psychologische
Therapie“ nennt Grawe das dritte Wirkprinzip auch „Intentionsrealisierung“ und
das vierte „Intentionsveränderung“. Schließlich entwirft Grawe ein „psychologisches
Therapiemodell“ mit drei Hauptwirkkomponenten:
1.
Ressourcenaktivierung
2.
Destabilisierung
von Störungsattraktoren durch problemspezifische Interventionen
3.
Reduktion
von Inkonsistenz durch Veränderung motivationaler Attraktoren.
Die Komponente
„Destabilisierung von Störungs-attraktoren“ entspricht in etwa dem Prinzip der
„aktiven Hilfe zur Problembewältigung“ und die „Reduktion von Inkonsistenz
durch Veränderung motivationaler Attraktoren“ entspricht der „Klärung der
Motivation des Patienten“.
Das Wirkprinzip der Problemaktualisierung
(Grawe nennt es auch das Prinzip der unmittelbaren Erfahrung oder der
prozessualen Aktivierung) hat Grawe in der neueren Systematik als eigene
Komponente weggelassen, da die Problemaktualisierung, trotz ihrer hohen
funktionalen Bedeutung, allein nicht direkt wirken könne. Ihre positive Wirkung
entfalte sie nur im Zusammenhang mit der aktiven Problembewältigung (bzw.
Destabilisierung von Störungsattraktoren) und der motivationalen Klärung (bzw.
Reduktion von Inkonsistenz durch Veränderung motivationaler Attraktoren) und
sei daher unter diese zwei Hauptwirkkomponenten zu subsumieren.
Ich werde im Folgenden der
Systematik der drei Hauptwirkkomponenten folgen und darüber hinaus eine Reihe
weiterer Schwerpunkte von Grawes Psychotherapiekonzeption darstellen:
Ressourcenaktivierung
Patienten kommen in der Regel mit der Hoffnung in die
Behandlung, dass sich mit Hilfe des konsultierten Arztes oder Therapeuten ihre
Beschwerden bessern werden. In dieser Besserungserwartung erkennt Grawe eine
unspezifische, aber höchst bedeutsame Ressource. Denn die Induktion von Besserungserwartungen erweist sich – unabhängig von
der speziellen Behandlungstechnik – als einer der stärksten Faktoren für die
Wirkung von Therapie vor allem zu Beginn der Behandlung.[4] Wer
schon zu Beginn der Therapie eine subjektive Verbesserung des Wohlbefindens
verspürt, hat bessere Chancen auf eine nachhaltige objektive Symptomverbesserung
und bessere soziale Anpassung[5]. Das
bedeutet, dass ein Therapeut, der seinen Patienten mit einem professionellen
Setting und vertrauenserweckenden Auftreten, einem für den Patienten
überzeugenden Erklärungsmodell (Rationale) und einem daraus konsistent ableitbarem
Behandlungsritual davon überzeugen kann, dass er für die Störung des Patienten
kompetent ist, über eine Kettenreaktion im Sinne der self fullfilling prophecy
signifikante Besserungen selbst dann bewirken kann, wenn das von ihm
verwendete störungsspezifische Verfahren nachweislich unwirksam ist (Placebotherapie)[6]. Ein
Patient mit einer starken Besserungserwartung wird mit mehr Schwung eigene
Aktivität in den Therapieprozess einbringen, offener für unbequeme oder
beunruhigende Interventionen des Therapeuten sein und mehr Mut haben,
einschränkende Muster oder Schemata seines Verhaltens und Denkens zugunsten
alternativer Bewältigungsstrategien aufzugeben. Er wird dann mehr
Erfolgerlebnisse haben, damit mehr Selbstvertrauen und Hoffnung. Das wiederum
verbessert die Aufnahme- und Kooperationsbereitschaft, führt zu mehr
Engagement sowohl des Patienten als auch des Therapeuten und verbessert die
Therapiebeziehung. Wenn Ressourcen in dieser Weise aktiviert werden, hilft das
dem Patienten, immer mehr so zu werden, wie er im Sinne seiner Ziele und
Wünsche sein möchte.
Die Induktion von Besserungserwartungen wirkt aber nicht nur
unspezifisch. Bei Angst und Depression stellt die durch Besserungs- und
Selbstwirksamkeitserwartungen bewirkte Veränderung der Zukunftsperspektive
einen störungsspezifischen Wirkfaktor dar. [7]
Die Therapiebeziehung selbst
muss als grundlegende Ressource angesehen werden. Weil eine Krankheit in der
Regel das Selbstwertgefühl kränkt, ist es wichtig, dass der Therapeut dem
Patienten selbstwerterhöhende Wahrnehmungen und positive Erfahrungen der
eigenen Wirksamkeit[8]
ermöglicht. Der Patient benötigt möglichst viel Gelegenheit, sich im Sinne
seiner positiven Intentionen, Fähigkeiten und Stärken zu äußern und zu
verhalten. Der Patient muss sich vom Therapeuten wertgeschätzt, verstanden und
in seinen Zielen unterstützt fühlen. Positive Bindungs-, Beziehungs- und
Kontrollerfahrungen (Erfahrung, weite Lebensbereiche selbst kontrollieren zu
können) innerhalb der Therapie verbessern die krankheitsbedingt negative
Lust/Unlust-Bilanz. Ein verbessertes Wohlbefinden und mehr Selbstbewusstsein
erhöhen die Volitionsstärken (Produkt aus der Realisierbarkeit eines Ziels und
der Wünschbarkeit des Zielzustandes) für positive Intentionen. Damit steigt
die Wahrscheinlichkeit erwünschten Verhaltens an. Der Patient macht häufigere
Bewältigungserfahrungen und sieht häufiger seine Wünsche realisiert. Dadurch
werden wiederum seine Besserungserwartungen bestätigt und verstärkt. Insgesamt
zeigt sich ein wünschenswerter Rückkoppelungseffekt, der die Kontrollparameter
(Begriffserklärung unten) der Störung des Patienten verändert. Über die
Destabilisierung der Störungsattraktoren (Begriffserklärung unten) reduzieren
sich seine Symptome.
Die Ressourcenaktivierung ist nach Grawe die wesentliche
Voraussetzung, dass psychotherapeutische Interventionen wirken können. Ohne
Ressourcenaktivierung können konflikt- und störungsspezifische Interventionen
(z.B. eine psychodynamische Deutung oder eine Reizexposition) erfolglos
bleiben. Grawe: „Als Ressource kann jeder Aspekt des seelischen Geschehens
und darüber hinaus der gesamten Lebenssituation eines Patienten aufgefasst werden,
also z.B. motivationale Bereitschaften[9], Ziele,
Wünsche, Abneigungen, Interessen, Überzeugungen, Werthaltungen, Geschmack, Einstellungen,
Wissen, Bildung, Fähigkeiten, Gewohnheiten, Interaktionsstile, physische Merkmale
wie Aussehen, Kraft, Ausdauer, finanzielle Möglichkeiten und das gesamte
Potential der zwischenmenschlichen Beziehungen eines Menschen.“
Pessimistische und hoffnungslose Patienten mit geringer oder
fehlender Besserungserwartung benötigen im besonderen Maße ressourcenaktivierende
Unterstützung. Selbst bei fehlender Besserungserwartung haben Patienten, z.B.
mit einer Agoraphobie, durchaus den dringenden Wunsch, sich wieder außerhalb
der Wohnung bewegen zu können. Sie erkennen in der Bewegungsfreiheit einen
hohen Wert.[10]
Die Stärke des Wunsches, der hohe Wert des Zieles für den Patienten ist eine
wichtige motivationale Ressource für die Therapie. Selbst fehlende Besserungserwartungen
und Widerstände müssen als Ressource (z.B. im Sinne einer Schutzfunktion)
begriffen und mit einer komplementären Therapiebeziehung (siehe unten) beantwortet
werden.
Grawe fordert, dass Therapeuten die Ressourcenperspektive
von Anfang an schwerpunktmäßig in die Indikationsstellung und Planung des
Therapieprozesses einbeziehen. Es sollen bevorzugt Techniken Anwendung finden,
welche an die vorhandenen Fähigkeiten des Patienten anknüpfen. Die Patienten
profitieren eben mehr von einer Vorgehensweise, bei der sie möglichst viele Erfahrungen
von Kontrolle, Selbstwirksamkeit und Selbstwert machen können, als von Methoden,
die sie mit ihren Defiziten konfrontieren.
Destabilisierung von Störungsattraktoren durch problemspezifische Interventionen
Grawe stellt seine Konzeption
des Verständnisses von psychischen Störungen und der Wirkung von
Psychotherapie auf die Grundlage der modernen Neurowissenschaften und kybernetisch-systemtheoretischer
Modelle[11]. Als
Ziel von Psychotherapie kann man aus dieser Sicht die möglichst häufige Aktivierung
von bedürfnisbefriedigenden neuronalen Erregungsmustern (Ressourcen)
definieren sowie die Überschreibung
dysfunktionaler neuronaler Erregungsmuster durch solche, die dem Patienten
eine bessere Anpassung (Akkomodation) an die Realitätsanforderungen und eine
wirksamere Reduktion seiner Bedürfnis- und Inkonsistenzspannung
(Begriffserklärung unten) ermöglichen.
Diese zunächst ungewohnte
Zielbestimmung von Psychotherapie bedarf einer Erläuterung: Unter neuronalen
Erregungsmustern wird die gemeinsame, synchronisierte Aktivität von Nervenzellen
(Neuronen) im Gehirn verstanden, die sich zu funktionellen Gruppen (cell
assemblies[12])
zusammenschließen[13]. Die
gleichzeitige elektrische Potentialveränderung, das sogenannte Feuern dieser
Zellen stellt das neurobiologische Korrelat unbewusster und bewusster mentaler
Zustände und Prozesse dar. Das zu einem charakteristischen neuronalen
Erregungsmuster führende Zusammenwirken bestimmter Zellen kann einen Gedanken,
eine Wahrnehmung, ein Gefühl, ein Verhaltensschema oder einen Gedächtnisinhalt
repräsentieren. Zum Beispiel erleben wir dann eine Emotion bewusst, wenn der
Rhythmus der Aktivität von bestimmten Neuronenverbänden unseres limbischen
Systems (das Emotionen repräsentiert) mit der Aktivität von Neuronenverbänden
in bewusstseinsspezifischen Hirnarealen (z.B. die perisylvinische Region)
synchronisiert wird[14].
Neuronale Erregungsmuster sind
zum Teil angeboren, z.B. die wichtige vegetative Steuerung der Organfunktionen
und basale Reflexe. Viele Erregungsmuster müssen sich jedoch erst durch die
Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt herausbilden.
Entwicklungspsychologisch gesehen liegt den Erregungsmustern eine basale,
zunächst ungerichtete Aktivität zugrunde. Wenn sich die angeborene basale Aktivität
im Sinne biologischer Bedürfnisse bewährt, wenn z.B. das Schreien des
Säuglings ein Gestilltwerden und eine Reduzierung seiner Bedürfnisspannung
bewirkt, werden neue synaptische Verbindungen zwischen den beteiligten
Nervenzellen ausgebildet. Die Wahrscheinlichkeit erhöht sich, dass diese
Neurone später erneut zusammen aktiviert werden. Jede erneute Aktivierung
verstärkt die Verbindungen zwischen den Nervenzellen und erleichtert ihr gemeinsames
Feuern[15]. Auf
diese Weise bilden sich immer stabilere Erregungs- und damit Verhaltensmuster
oder Verhaltensschemata[16] heraus.
Die komplexe und wandelbare
Vernetzung funktionell zusammenwirkender Nervenzellen, in der die Resultate
der Organismus-Umwelt-Interaktion gespeichert werden, ist ein neurobiologisches
Modell, mit dem Lernprozesse und Gedächtnisfunktionen verschiedenster Art
erklärbar sind. In der Psychotherapie haben wir es zum einen mit erwünschten
Erregungsmustern (Ressourcen) zu tun, die sich in vorteilhaften, funktionalen
Mustern oder Schemata des Verhaltens, Wahrnehmens, Denkens und Fühlens manifestieren.
Daneben haben wir es mit alten, eingefahrenen, stark gebahnten, meist
unbewusst entstandenen, motivationalen, emotionalen, interpersonalen
Verhaltens-, Konflikt- und Vermeidungsmustern, Mechanismen oder Schemata zu
tun, die den Patienten ganz offensichtlich schaden.
Neuronale Erregungsmuster und
die ihnen entsprechenden Schemata des Verhaltens, Wahrnehmens, Denkens oder
Fühlens nennt Grawe Attraktoren,
wenn sie sich im psychischen Geschehen als besonders stabil und machtvoll manifestieren.
Wenn man das psychische Geschehen als ein sich über Rückkoppelungsmechanismen
selbst organisierendes, hierarchisches und dynamisches System[17]
ansieht, ist ein Attraktor ein Ordnungszustand (ein neuronales Erregungsmuster),
zu dem das System hintendiert und der andere Systembestandteile versklavt,
das heißt der andere Erregungsmuster in seinen Rhythmus hineinzieht. Das
hierarchisch höchste Ziel, dem ein Attraktor dient, ist die Erhaltung des Systems.[18]
Inwieweit ein Attraktor aktiviert oder blockiert ist, hängt von sogenannten Kontrollparametern
ab.[19] Im
seelischen Geschehen sind gleichzeitig viele Attraktoren aktiv, die
wechselseitig füreinander Kontrollparameter darstellen.
Hauptdeterminanten des
psychischen Geschehens sind motivationale Attraktoren, emotionale Attraktoren
und interpersonale Attraktoren. Sie sind untereinander funktional eng verbunden
und dienen der biologischen Erhaltung des Organismus und der
Bedürfnisbefriedigung[20]. Attraktoren,
die ursprünglich zur Bedürfnisbefriedigung entstanden sind, müssen nicht
Mittel zur Erfüllung der Bedürfnisse bleiben. Motivationale Attraktoren können
sich von ihren Entstehungsbedingungen (Kontrollparametern) lösen und danach
ein Eigenleben führen.[21] Ein
emotionaler Attraktor kann durch positive Rückkoppelung (wechselseitige
Aufschaukelungsprozesse bzw. Bahnungen zwischen verschiedenen cell assemblies)
so verstärkt werden, dass er schließlich autonom wird, das übrige psychische
Geschehen versklavt und anderen wichtigen motivationalen Attraktoren
zuwiderläuft. Kleine Auslöser können so - losgelöst von auf bestimmte Ziele
ausgerichtete Intentionen - gravierende, sich selbst erhaltende und
verstärkende emotionale Erregungen hervorrufen (z.B. Wutanfall, Jähzorn,
Eifersucht, Angst und Depression). Ein autonom gewordener emotionaler Attraktor
kann so zum Störungsattraktor werden.
Grawe zieht als Beispiel den
Störungsattraktor einer Agoraphobie heran: Diese Störung hat eine Reihe von
Komponenten (Reaktionserwartungen nach Kirsch = Angst vor der Angst, Ergebnis-Folge-Erwartung,
geringe Kompetenzerwartung für das Fertig-Werden mit Angst, Vermeidungsverhalten,
das im emotionalen Gedächtnis gespeicherte Angstgefühl, die physiologischen
Begleiterscheinungen, der motorische Ausdruck in der Mimik, die subliminale
Aufmerksamkeitszuwendung zu angstauslösenden Reizen statt der
Aufmerksamkeitsabwendung), die als Kontrollparameter des Störungsattraktors und
zugleich als Unterattraktoren angesehen werden können.
Störungsattraktoren zeichnen
sich durch funktionale Autonomie und Versklavung anderer seelischer
Funktionen aus, was der Patient subjektiv als Kontrollverlust erlebt.
Interessanterweise haben Störungsattraktoren aus der Systemperspektive für das
psychische Geschehen auch einen Vorteil: Als emergentes[22]
Produkt der dynamischen Selbstorganisationspozesse bringt der Störungsattraktor
dem seelischen System ein Mehr an Ordnung und Stabilität. Wir werden unten
erfahren, dass Störungsattraktoren geeignet sind, Inkonsistenz zu reduzieren.
(Damit liefert die Systemtheorie auch eine brauchbare Erklärung für das
Phänomen des primären Krankheitsgewinns). Dieser Vorteil, dieses Mehr an
Stabilität macht es erfahrungsgemäß so schwer, den Störungsattraktor trotz seiner
offensichtlichen Nachteile für den Patienten zu beseitigen.
Als zweites großes Wirkprinzip
von Psychotherapie (nach der Ressourcenaktivierung) nimmt Grawe die direkte
und gezielte Beseitigung der im Vordergrund stehenden, autonom gewordenen
Störungsattraktoren durch störungsspezifische Techniken[23] an.
An dieser Stelle tritt er am offensichtlichsten in Gegensatz zur Psychoanalyse.
Ein Therapeut muss über störungsspezifisches Know-how[24] im
Sinne kognitiv-behavioraler Interventionen verfügen. Er muss wissen, an
welchen Komponenten und Kontrollparametern der Störung er wie am besten ansetzt.
Veränderung wirkt nach Grawe
immer von der Gegenwart in die Zukunft, nicht von der erinnerten Vergangenheit
auf die Gegenwart. Eine langwierige biographische Ursachensuche verbunden mit
theorielastigen und für den Patienten möglicherweise unverständlichen Erklärungshypothesen
hält Grawe für ungeeignet, dem Patienten in seinem akuten Leidensdruck zu helfen.
Die therapeutischen Anstrengungen sollen sich auf die aktuell wirksamen
Kontrollparameter des Störungsattraktors konzentrieren und nicht auf kaum
objektivierbare und aktuell möglicherweise gar nicht mehr relevante Ursachen
der Störung in längst vergangenen Zeiten. Ein Therapeut, der dem Patienten
keine gezielte, direkt auf die Störung ausgerichtete, spezifische und empirisch
abgesicherte Behandlungsstrategie anbieten kann, untergräbt die Besserungserwartungen
des Patienten und gefährdet die therapeutische Beziehung.
Um das Ziel zu erreichen, die
wichtigsten Störungsattraktoren zu destabilisieren, muss man sie zuerst
aktivieren. Man wird keine Agoraphobie beseitigen, wenn man mit dem Patienten
nur über seine Angst spricht. Neuronale Erregungsmuster müssen in vivo
aktiviert sein (z.B. durch „experiential confrontation“ in der realen Beziehungssituation,
im Rollenspiel, durch erlebnisaktivierende Verfahren oder Reizkonfrontation).
Gleichzeitig muss die bewusste Aufmerksamkeit des Patienten dahin gelenkt
werden, wo es etwas Neues zu lernen gibt. Der Patienten wird dann mit
unerwarteten, möglicherweise nicht mehr an seine bestehenden Schemata assimilierbaren
Wahrnehmungen und Erfahrungen konfrontiert sein. Nur so können die beteiligten
Nervenzellen neue Verbindungen herstellen, sich die im Langzeitgedächtnis gespeicherten
neuronalen Erregungsbereitschaften verändern und damit die bewussten
Verhaltensmuster und Erwartungen des Patienten (Akkomodation im Sinne Piagets).
Anschließend muss der Patient möglichst viele reale Erfahrungen machen, die er
an das neue Schema assimilieren kann. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass
der Patient keine Wahrnehmung im Sinne seiner Vermeidungsziele machen kann.
Wenn wir auf das Beispiel der
Agoraphobie zurückkommen, sind die gegenwärtigen Aktivierungsmöglichkeiten
die Komponenten dieser Störung selbst (Vermeidungsverhalten, Reaktions- und
Selbstwirksamkeitserwartungen, physiologische Komponenten). Sie sind als die
entscheidenden Kontrollparameter der Störung anzusehen, die in der Therapie
gegenwartsbezogen verändert werden müssen. Durch eine Expositionstherapie[25] z.B.
werden neue neuronale Verbindungen und neue Bewusstseinsinhalte gegen den
hemmenden Einfluss bestehender Verbindungen geschaffen. Es verändern sich
damit auch die Neuronennetze, von denen der hemmende Einfluss ausgeht
(reziproke Akkomodation im Sinne Piagets). Die Folge ist, dass bislang dem
Bewusstsein entzogene Prozesse, die Kontrollparameterqualität für den Störungsattraktor
haben, bewusst steuerbar werden. Der Patient gewinnt mehr und mehr Kontrolle
über die Kontrollparameter seiner Störung und destabilisiert so den
Störungsattraktor. Dadurch, dass gleichzeitig die Vermeidungsschemata
abgeschwächt werden, gewinnt der Patient mehr Spielraum für intentionale (auf
positive Ziele ausgerichtete) Schemata und für korrektive Erfahrungen.
Wenn Grawe verlangt, dass der
Therapeut erst hervorrufen muss, was er beseitigen will, wird er nicht müde zu
betonen, dass die für den Patienten beängstigende Aktivierung problematischer
Seelen- und Lebensbereiche nur in Kombination mit der Aktivierung positiver
Erregungsmustern/Schemata (Ressourcen) erfolgen darf, damit es nicht zur
Abwendung des Patienten von den emotional belastenden Inhalten kommt. Ideal
ist: Ressourcenaktivierung (dadurch Induktion von Besserungserwartungen und
bessere Therapiebeziehung) + Problemaktivierung + Hilfe zur Veränderung des
Denkens und Verhaltens + Konfrontation mit neuen Erfahrungen + bessere
Einsicht in unbewusste Motivationen.
Reduktion von Inkonsistenz durch Veränderung motivationaler Attraktoren.
Wenn Grawe auch eine
schwerpunktmäßig vergangenheitsorientierte, biographische Ursachensuche für
psychische Störungen ablehnt, legt er doch auf eine ätiologische Betrachtung
größten Wert. Verstehen-Wollen entspringt dem Grundbedürfnis nach Kontrolle und
Orientierung, das Therapeut und Patient gemeinsam ist. Sein ätiologisches
Verständnis ist jedoch weniger kausal als final ausgerichtet.
Das Streben nach Konsistenz[26] ist
aus der Systemperspektive das übergeordnete Prinzip der dynamischen
Selbstorganisation des psychischen Geschehens. Es ist auf der höchsten System-Regulations-Ebene
angesiedelt, die wir auch als Selbst (siehe unten) bezeichnen können. Dieser
höchsten Ebene obliegt die Vermeidung von inkongruenten Wahrnehmungen. Vorrangiges
Sollsignal, das von dort den Attraktoren auf unteren Systemebenen vorgegeben
wird, ist das der Einheit und Vereinbarkeit der Prozesse auf den unteren Ebenen[27]. Die
lebensbewälti-gende Funktion psychischer Prozesse ist nur durch ihre
einheitliche Ausrichtung gewährleistet[28].
Epstein (1993) meint, dass auf der höchsten Systemebene ein Selbstschema
wirkt, das als implizite Theorie des Individuums über sich selbst (Identität)
und die Realität seine Postulate an die Umwelt heranträgt[29]. Das
Konsistenzprinzip ist kein Grundbedürfnis oder Motiv, sondern eine
grundlegende Anforderung für die Stabilität des Systems. Grawe: Konsistenz ist
menschliches Glück, mit sich und der Welt eins sein, als Ganzes funktionieren,
der Gegenpol von Konflikt, Dissonanz, Dissoziation und Inkonsistenz.
Grawe stellt sich die
Entstehung von Inkonsistenz so vor, dass es durch eine auslösende Situation
zum Konflikt zwischen intentionalen (erregenden) und (hemmenden) Vermeidungsschemata
kommt. Es können auch mehrere intentionale Schemata oder mehrere Vermeidungsschemata
miteinander konkurrieren. Wenn sich psychische Prozesse gegenseitig ausschließen
oder im Konflikt stehen, zeigt sich das auf der neuronalen Ebene durch Hemmung
der Aktivität des einen durch die Aktivierung des anderen. Wenn bedeutsame
Bedürfnisse an ihrer Befriedigung gehindert werden, steigt die Inkonsistenzspannung
unter Umständen unerträglich an.[30] Die
Inkonsistenzspannung kann dann nur noch vermieden werden, wenn die Bedürfnisse
und deren Beeinträchtigung oder Bedrohung sowie die begleitenden Emotionen
nicht mehr gleichzeitig im Bewusstsein repräsentiert werden.[31]
Hierdurch kommt es jedoch zur Dissoziation der bewussten und
implizit-unbewussten Prozesse und damit zum Verlust der bewussten Kontrolle.
Die dysfunktionale dissoziative Störung bedingt weitere Inkonsistenz und die
Disposition zur Ausbildung neuer Störungsattraktoren.
Das psychische System der
Selbstorganisation toleriert ein gewisses Maß an Inkonsistenz zwischen dem
implizit-unbewussten und bewussten Modus. Aber je größer die Diskrepanz oder
mehr noch eine Dissoziation der ablaufenden Prozesse ist, desto weniger wirksam
sind sie hinsichtlich der Zielverfolgung des bewussten Funktionsmodus.
Zur Vermeidung von
Inkonsistenz im Bereich bewusster psychischer Prozesse gibt es neben der
Dissoziation eine Reihe anderer Abwehrmechanismen oder Vermeidungsschemata
(Nichtzulassen, Ausblenden, Fernhalten von Wahrnehmungen, Erinnerungen,
Gefühlen und Gedanken), die Grawe auch Verdrängung (englisch repression)
nennt. In diesem Zusammenhang spricht Grawe von einem Inkonsistenzfilter, der
als automatisierter präattentiver Schutzmechanismen zur Inkonsistenzvermeidung
dient (entspricht Freuds Zensor).[32]
Die vordergründige Konsistenz
im Bewusstsein, die durch die Wirkung der Abwehrschemata erreicht wird, wird durch eine vermehrte Dissoziation im
unbewussten Geschehen erkauft, welche die Inkonsistenzspannung letztlich
verstärkt. Die äußerste Möglichkeit des psychischen Systems, eine anders nicht
abzubauende Inkonsistenzspannung zu reduzieren, ist die Ausbildung eines
Störungsattraktors. Die Krankheit fungiert dabei als ein neues Ordnungsmuster
neuronaler und psychischer Aktivität, das einen Zustand dissoziierter Prozesse,
Instabilität und geringer Zielorientierung zu stabilisieren vermag. Diese neue
Ordnung ist jedoch nicht mehr auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, sondern
auf Prozesse, die ein innerpsychisches Eigenleben zu führen beginnen. Der
Störungsattraktor reduziert vorübergehend die Inkonsistenzspannung, weil er
weite Bereiche der psychischen Aktivität zu einer neuen Ordnung zusammenbindet
und versklavt. Es wird zwar durch die Störung eine gewisse Stabilisierung des
Systems erreicht, aber nur um den hohen Preis leidvoller Dissonanz von
Bewusstsein, Störungsattraktoren und motivationalen Attraktoren. Generell kann
man sagen, dass ein kurzfristiger Konsistenzgewinn durch Verdrängung oder
Krankheit langfristig Konsistenzverlust und die Gefahr weiterer Störungen
bedingt.
Psychische Störungen entwickeln
sich nach Ansicht Grawes nur, wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind. Ein
Mensch, der in seinen Grundbedürfnissen nicht verletzt und beeinträchtigt ist,
entwickelt keine psychische Störung. Nur ein insgesamt erhöhtes
Inkonsistenzniveau aufgrund unauflösbarer unbewusster Konflikte führt zur
Ausbildung einer spannungsreduzierenden psychischen Störung. Wenn der Patient
Jahre nach Beginn der Störung in die psychotherapeutische Behandlung kommt,
kann der Störungsattraktor bereits von seinen Entstehungsbedingungen, die
durch die Veränderung der Lebenssituation irrelevant geworden sind,
abgekoppelt sein und eine autonome Eigendynamik entwickelt haben. Der
Störungsattraktor kann auf andere Attraktoren so eingewirkt haben, dass die
Determinanten, die ursprünglich zur Störung geführt haben, bereits verändert
sind und die inkonsistenzerzeugende Konstellation bereits aufgelöst ist. Der
Störungsattraktor kann durch Synchronizität oder reentrant mapping zu allen
möglichen anderen neuronalen Erregungsmustern, zu Wahrnehmungen, Gedanken,
Gefühlen und Erinnerungen neue Verbindungen hergestellt haben. Diese können zu
seinen neuen Kontrollparametern geworden sein und ihn aufrecht erhalten.
Jetzt wird verständlich, warum
Grawe so nachdrücklich dafür plädiert, sowohl die aktuell wirksamen
Kontrollparameter des Störungsattraktors als auch die aktuellen Quellen von
Inkonsistenzspannung zu behandeln. Grawe interessiert weniger, wann und aus
welchen lebensgeschichtlichen Gründen Inkonsistenzen und Störungen erstmals
entstanden sind, sondern vielmehr welche Kontrollparameter und welche Bedürfnisse
des Patienten im heutigen Leben des Patienten eine Rolle spielen, wie die
Kontrollparameter direkt beeinflusst werden können und warum die
Bedürfnisspannung nicht durch die aktuell vorhandenen motivationalen, emotionalen
und interpersonalen Attraktoren ausreichend reduziert werden kann.
Für die Reduktion von
Inkonsistenz spielen nach Grawes Meinung die motivationalen Schemata eine
hervorragende Rolle. Motivationale Schemata entwickeln sich quasi um die
menschlichen Grundbedürfnisse herum: Mit zunehmender Lebenserfahrung mit den
eigenen Bedürfnissen und den realen Möglichkeiten ihrer Befriedigung entwickelt
ein Mensch eine immer differenziertere Strategie zur Realisierung seiner
Oberziele. Die Fähigkeit, ein Bedürfnis in einer reich ausgestalteten Struktur
von Unterzielen oder motivationalen Unterschemata zu verfolgen (sozusagen eine
Strategie der kleinen Schritte) verbessert die Aussichten für eine wirkliche
Bedürfnisbefriedigung. Ein ausgewogenes Verhältnis von Bedürfnissen und
Bedürfnisrealisierung, man kann auch sagen: von Bedürfnisspannung und den
Möglichkeiten der Spannungsreduktion, ist die Grundlage von Konsistenz und
guter seelischer Gesundheit.
Grawe erkennt in dem
Grundprinzip, dass psychische Aktivität auf Wahrnehmungen im Sinne aktvierter
Ziele ausgerichtet ist, eine der wichtigsten Erkenntnisse der Psychotherapieforschung.
Für die Qualität der Therapiebeziehung ist es unerlässlich, dem Patienten reichhaltige
Wahrnehmungen im Sinne seiner Bedürfnisse zu ermöglichen. Echte Veränderungen
können im Therapieprozess nur im Einklang mit den unbewussten und bewussten
Intentionen des Patienten erzielt werden. Was in das Bewusstsein des Patienten
Eingang finden soll, muss mit seinen motivationalen Attraktoren vereinbar
sein, sonst passiert es nicht seinen Konsistenzfilter.
Die Schwierigkeit und
Herausforderung besteht für den Therapeuten darin, dass die Motivation des
Patienten oft in inkonsistenzfördernder Weise unklar, widersprüchlich oder
kontraproduktiv ist. Grawe schlägt drei Wege zur Inkonsistenzreduktion vor:
1. durch bewusste
Bewältigungserfahrungen mit Hilfe störungsspezifischer Therapieverfahren wie
oben besprochen.
2. durch Klärungserfahrungen:
Der Therapeut muss die
eigentliche, zum Teil implizit-unbewusste Intention des Patienten aus dem
nonverbalen Verhalten erschließen und bei der Beziehungsgestaltung
komplementär, d.h. die Identitätsziele des Patienten bestätigend (siehe auch
unten) vorgehen. Bei Patienten mit psychischen Störungen sind sowohl bedürfnisorientierte
Ziele (intentionale oder motivationale Schemata) und Selbstschutzziele (Vermeidungsschemata)
stark aktiviert. Das scheinbar unauflösbare Spannungsverhältnis dieser entgegengesetzten
Tendenzen (Konfliktschemata) macht ja gerade das Erleben von Inkonsistenz aus.
Zudem kann es bei der Aktivierung intentionaler Schemata auch zur Aktivierung
der Vermeidungsschemata kommen und damit zu einer noch höheren Konfliktspannung,
Inkonsistenz und Symptomzunahme. Therapeuten kennen das Phänomen, dass
Patienten, die im Sinne ihrer positiven Ziele ermutigt und zu einem vorteilhaften
Verhalten trainiert wurden, in scheinbar widersinniger Weise in längst überwunden
geglaubte Muster des Verhaltens und Denkens sowie alte Symptome zurückfallen.
Wie wird man diesem Dilemma
therapeutisch Herr? Nach Grawe ist die gezielte Bedürfnisbefriedigung durch
Ermöglichung von Wahrnehmungen, die mit einem wichtigen aktivierten motivationalen
Schema des Patienten kongruent sind, eines der besten Interventionsmittel. Nach
seiner Erfahrung verstärkt es nicht etwa das Problemverhalten, wie man es aus
behavioraler Sicht annehmen könnte, sondern kann problematisches, den
Therapieprozess störendes Verhalten und Widerstände reduzieren.
Auch im Zusammenhang mit der
motivationalen Klärungsarbeit weist Grawe auf die notwendige
Ressourcenaktivierung hin: Immer wieder muss die therapeutische Arbeit auf die
positiven Ziele und Bindungswünsche des Patienten Bezug nehmen und mit
möglichst vielen Auslösern[33],
vorhandenen Fähigkeiten und bereits gut gebahnten positiven motivationalen
Schemata verbinden. Auf diese Weise verstärkt der Therapeut die
Volitionsstärke hinsichtlich der Therapieziele.
Des weiteren müssen die Vermeidungsschemata
im Hinblick auf die in ihnen wirksamen Ressourcen gewürdigt werden: Beim Vermeidungsverhalten
soll nicht nur behavioral auf dessen Aufrechterhaltung durch negative Verstärkung
geachtet werden, sondern es muss auch auf die ihnen zugrundeliegenden
Grundbedürfnisse, Lebenserfahrungen, Befürchtungen, Erwartungen und
Kognitionen eingegangen werden.
Für die
inkonsistenzreduzierende Klärungsarbeit gilt ebenso wie für die
Destabilisierung des Störungsattraktors, dass der Therapeut das Erregungsmuster
aktivieren muss, welches er verändern will. Für eine Bottom-up-Aktivierung von
störungsrelevanten motivationalen, interpersonalen und Vermeidungsschemata
bietet sich die Realität der Therapiebeziehung an. Die Behandlungsbedürftigkeit
eines Patienten beruht ja in vielen Fällen darauf, dass seine Grundbedürfnisse
nach Orientierung, Kontrolle, nach Lust bzw. Unlustvermeidung,
Selbstwerterhöhung und Bindung verletzt wurden und infolge der Wirkung von
Störungsattraktoren, Konflikt- und Vermeidungsschemata noch immer und immer
wieder frustriert werden.
Im Schutz einer „guten“
Therapiebeziehung (was das ist, wird unten definiert) können bislang durch
Vermeidungsschemata blockierte motivationale und emotionale Schemata im Sinne
der Grundbedürfnisse aktiviert werden. Es ist zu erwarten, dass der Patient
von sich aus seine wichtigsten Beziehungswünsche (inklusive einiger
Konfliktschemata) an den Therapeuten heranträgt. Damit werden auch seine
problematischen Interaktionsmuster im Therapieprozess aktiviert. Wenn der
Patient gegenüber dem Therapeuten ein Verhalten zeigt, das für einen vernünftigen
Erwachsenen unangemessen erscheint, oder wenn er Gefühle, Phantasien, Träume,
Wünsche oder Befürchtungen in Bezug auf den Therapeuten äußert, sprechen Psychoanalytiker
von Übertragungsphänomenen.[34] Die
kognitive und emotionale Reaktion des Therapeuten auf den Patienten wird als
Gegenübertragung bezeichnet.
Grawe hält es wie die
Psychoanalytiker für notwendig, den Patienten auf seine implizit-unbewussten
intentionalen, emotionalen, interpersonalen, Vermeidungs- und Konfliktschemata[35] aufmerksam
zu machen, wenn sie im Therapieprozess zu Tage treten. Vor allem müssen unbewusste
Vermeidungsziele herausgearbeitet werden, welche der angestrebten Veränderung
von Vermeidungsschemata (z.B. der Exposition bei Phobie) Widerstand
entgegensetzen.[36]
Am Modell der realen Therapiebeziehung lassen sich dem Patienten unbewusste
interpersonale Konfliktschemata sichtbar machen und durch korrektive
Erfahrungen verändern.[37] Der
Therapeut „enttäuscht“ in positiver Weise die negativen Erwartungen des
Patienten hinsichtlich der Reaktion des Therapeuten auf sein Verhalten. Auf
diese Weise bilden sich neue Bewusstseinsinhalte und Einsichten aus.
Grawe warnt aber vor
Übertragungsdeutungen. Die Zahl der Übertragungsdeutungen korreliert negativ
mit dem Therapieergebnis (Henry et al, 1994). Übertragungsdeutungen in Bezug
auf eine problematische Therapiebeziehung führen zu defensiven Verhalten beim
Patienten, das wiederum mit einem schlechten Ergebnis der Therapie korreliert
(Orlinsky, Grawe und Parks, 1994). Die Ursache für die nachteiligen Wirkungen
von Übertragungsdeutungen sehen Henry, Schacht und Strupp (1986, 1990) in ihrer
Doppeldeutigkeit (freundlich, belehrend und kritisierend) und Wile (1994) in
der Feindseligkeit der psychoanalytischen Theorie.
Ein Klärungsprozess, der sich
nicht in konkreten Verhaltenskonsequenzen und realen Erfahrungen bewähren muss
und diese nicht aktiv fördert, geht nach Grawe nur den halben Weg. Die
therapeutisch angestrebte nachhaltige Abschwächung von motivationalen
Vermeidungsschemata und die Förderung von positiven intentionalen Schemata
bedarf der Assimilierung möglichst vieler konkreter Erfahrungen an die neu
etablierten neuronalen Erregungsbereitschaften.
3. Inkonsistenzreduktion durch
implizite korrektive Erfahrungen:
Therapeutische Fortschritte
lassen sich auch dann erzielen, wenn der Patient keine bewussten und in der
therapeutischen Arbeit explizit angesprochenen Einsichten zu seinen Konflikten
erzielt. Therapeutische Wirkungen können auf einer sowohl für den Patienten
als auch für den Therapeuten unbewussten Ebene stattfinden. In der
therapeutischen Situation ist der Therapeut ja irgendwie gezwungen, mit seinem
eigenen Beziehungsverhalten implizit zum Beziehungsverhalten des Patienten
Stellung zu nehmen. Wenn die Befürchtungen des Patienten in Bezug auf den
Therapeuten durch korrigierende Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung
entkräftet werden, wenn der Therapeut einen Beziehungstest (siehe unten)
besteht, auch dann, wenn darüber explizit nicht gesprochen wird, kann sich der
Patient doch im Sinne eindeutigerer Intentionen und positiverer Ziele
verändern. Darin liegt nach Grawe eine große Möglichkeit von Psychotherapie. Bei
Patienten mit sehr unbefriedigenden Beziehungen entscheidet sich der
Therapieerfolg v.a. auf der Beziehungsebene, ohne dass zwangsläufig alle
Prozesse bewusst werden müssen. Bewusstwerdung ist mitunter erst das Ergebnis
von Veränderungen.
Der Hauptanwendungsbereich von
Psychotherapie – so Grawe – liegt dort, wo Menschen gegebene
Glücksmöglichkeiten wegen ihrer eigenen motivationalen Schemata nicht
wahrnehmen oder ihr Unglück selbst erzeugen. Grawe will, dass in der
psychotherapeutischen Behandlung fünf
Dimensionen (mit je zwei Perspektiven) beachtet werden, um dem Patienten
möglichst umfassend gerecht zu werden:
1.
Die Bewertungsdimension: Die vom Patienten
dargebotene Information soll sowohl unter der Ressourcenperspektive als auch
unter der Problemperspektive[38]
beurteilt werden.
2.
Die Systemdimension: Das vom Patienten
dargebotene Material kann sowohl intrapsychisch als auch interpersonal
(systemisch) interpretiert und therapeutisch beeinflusst werden.
3.
Der Funktionsmodus bzw. die Kommunikations-Dimension:
Der Therapeut soll sowohl auf die implizit-nonverbalen (und oft unbewussten)
als auch auf die bewusst-expliziten, vom Patienten inhaltlich benannten
Botschaften achten.
4.
Die Bedeutungsdimension: Die Schwierigkeiten
des Patienten sind einerseits daraufhin zu untersuchen, ob ihnen ein
motivationales Defizit oder ein motivationaler Konflikt zugrunde liegt (Klärung
des Wollens). Andererseits muss der Therapeut prüfen, ob der Patient ein
potentiales Defizit (Nicht-anders-Können) hat und entsprechende Lernhilfen und
Trainings zur Problembewältigung benötigt.
5.
Die prozessuale oder Veränderungs-dimension:
Für den Behandlungsfortschritt müssen problematische Erregungsbereitschaft bzw.
Schemata des Patienten im Therapieprozess aktiviert werden (Zustandsperspektive)
und mit neuen Erfahrungen überschrieben werden (Veränderungsperspektive).
Dementsprechend ist für Grawe ein guter Therapeut
1.
Ressourcenorientiert.
2.
Prozessorientiert: Er erkennt implizite, motivationale
Schemata. Nicht nur was, sondern vor allem wie und wozu der Patient etwas sagt
oder tut, ist wichtig. Ein guter Therapeut besitzt eine entwickelte De- und
Enkodierfähigkeit für emotional und interpersonal relevante Botschaften. Er
verfügt über geeignete Methoden zur
perzeptuellen bottom-up-Aktivierung von Prozessen z.B. durch
Familienskulpturen, Psychodrama, Gestaltarbeit, Imagination, Hypnose, Aufsuchen
von Realsituationen. Er ermöglicht dem Patienten im Therapieprozess korrektive
Beziehungserfahrungen und trägt so zur Konsistenzsicherung bei.
3.
Beziehungsexperte: Er erkennt Beziehungstests
und ist zur komplementären Beziehungsgestaltung fähig. Er versteht etwas von
Übertragung, Konzepten der symmetrischen Eskalation (Watzlawik, 1969), von
Kollusion, Koalition, Triangulation, der Bedeutung von Grenzen, von
Gruppenkohäsion, vom Interpersonalen Kreismodell von Leary und Inventory of
Interpersonal Problems von Horowitz, Structural analysis of Social Behavior von
Benjamin, Adult Attachment Interview zur Diagnose von Bindungsstilen von Benoit
und Parker.
4.
Störungsexperte: Er kennt die Eigendynamik einer
Störung, ihre Komponenten und Kontrollparameter und wendet professionell
störungsspezifische Praxismanuale an.
5.
Experte für die motivationale Dynamik einer
Störung[39]. Er
ist vertraut mit menschlichen Grundbedürfnissen und mit den lebenswichtigen
Mechanismen der Konsistenzerzeugung.
6.
Sowohl bewältigungs- als auch klärungsorientiert.
7.
Erfahren mit verschiedenen Settings (Einzel-,
Gruppen-, Paar-, Familientherapie).
8.
Ganzheitlich bei der Fallkonzeption und Therapieplanung.
9.
Mehrdimensional, d.h. im Sinne der oben aufgeführten
fünf Dimensionen und zehn verschiedenen Perspektiven und entsprechend dem
Drei-Wirkkomponenten-Modell[40]
wahrnehmend, denkend und handelnd. Ein guter Therapeut weiß, welche wirksamen
Methoden verschiedene Therapieschulen herausgearbeitet haben, kennt aber auch
die kontraproduktiven Ausblendungen der verschiedenen Schulen und denkt und
handelt schulenunabhängig.
Grawes Funktionsmodell des psychischen Geschehens:
Der Ausgangspunkt Grawes für
das Verständnis psychischer Prozesse sind grundlegende interpersonale
Bedürfnisse. Nach Epstein (1991) sind die obersten Sollwerte für die psychische
Aktivität folgende Grundbedürfnisse:
·
das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle[41]
·
das Bedürfnis nach Lust bzw. nach Unlustvermeidung
·
das Bedürfnis nach Bindung und
·
das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung.
Die Grundbedürfnisse und der
Grad ihrer Befriedigung beeinflussen unmittelbar den emotionalen Zustand
eines Menschen und prägen seine motivationalen Schemata[42]. Da
die neuronale Kapazität für die bewusste, rationale Verarbeitung sehr viel
begrenzter ist als die implizite Verarbeitung[43] und
weil die höchste Systeman-forderung die Erhaltung der Konsistenz ist, erreicht
nur ein kleiner Teil der Fülle von Wahrnehmungen, Emotionen und Verhaltensweisen
das Bewusstsein. Viele Wahrnehmungen, konflikthafte Bedürfnisse, Emotionen und
vermeidende Verhaltensimpulse werden von einem Inkonsistenzfilter vom
bewussten Wahrnehmen, Denken und Handeln ferngehalten. Das bedeutet aber
nicht, dass sie ohne Wirkung blieben. Gerade weil sie der bewussten Kontrolle
entzogen sind, können sie das Verhalten eines Menschen machtvoll und
kontraproduktiv beeinflussen. Die Realisierungsebene von Bedürfnissen wirkt
akkomodierend auf die motivationalen Schemata und assimilierend auf den emotionalen
Zustand zurück. Die Erfahrungen mit der Befriedigung oder Nichtbefriedigung von
grundlegenden Bedürfnissen werden im Langzeitgedächtnis gespeichert und
prägen letztlich das Ich-Gefühl, die Überzeugungen, das Welt- und Selbstbild
des Individuums.
Hervorragende Bedeutung der therapeutischen Beziehung und der interpersonalen Bedürfnisse
Grawe sieht in der Qualität
der Therapiebeziehung einen Wirkfaktor ersten Ranges[44]. Er
geht mit der Auffassung der von Bowlby (1975) begründeten Bindungsforschung
konform, dass das Bedürfnis nach sicherer Bindung eines der grundlegendsten
Bedürfnisse von Menschen (und vieler höherer Tiere) ist und in der Therapiebeziehung
befriedigt werden muss. Nach Bowlby haben Kinder ein angeborenes Bedürfnis nach
Nähe zu einer Person, die das Leben besser meistern kann als es selbst. Bei
schwerer Krankheit ist dieses Bindungsbedürfnis nach Geborgenheit und Hilfe
akut aktiviert. Grawe schließt sich den drei grundlegenden Postulaten Bowlbys
zur Bindungstheorie an:
1.
Vertrauen auf die zuverlässige Verfügbarkeit
einer Bindungsfigur reduziert die Furcht.
2.
Vertrauen oder fehlendes Vertrauen entwickeln
sich in der Kindheit und bleibt für den Rest des Lebens relativ unverändert.
3.
Tatsächliche Bindungserfahrungen und die
Erwartungen, mit denen ein Mensch auf andere zugeht stimmen ziemlich genau überein.
Die aus den realen
Beziehungserfahrungen abgeleiteten Erwartungen nannte Bowlby „inner working
model“[45]. Das
innere Arbeitsmodell des Kindes entwickelt sich ungünstig, wenn die Beziehungsperson(en)
konsistent oder inkonsistent-unvorhersehbar mangelhaft verfügbar sind und/oder
es an Feinfühligkeit fehlen lassen. Es kann unter solchen ungünstigen
Bedingungen sowohl zur Entfremdung als auch zu übermäßiger Abhängigkeit
kommen.
Beziehungserfahrungen und
-muster werden von Generation zu Generation präverbal weitergegeben. Sie sind
völlig unbewusst und ausschließlich im impliziten Gedächtnis gespeichert.[46] Sie
entsprechen Grawes interpersonalen Schemata und werden im alltäglichen Beziehungsleben
andauernd bottom-up aktiviert. Das Bindungsverhalten wird implizit über das
limbische System gesteuert und steht damit im direkten Zusammenhang mit
physiologischen Prozessen. Das erklärt, warum sicheres Bindungsverhalten als
Schutzfaktor und unsicheres Bindungsverhalten als Risikofaktor für psychosomatische
Erkrankungen aufgefasst werden muss. Zwar gibt es keine eindeutigen spezifischen
Korrelationen zwischen der Art der Bindungsstörung und der Art der Erkrankung.
Aber psychische Störungen gehen fast immer mit einem unsicheren Bindungsmuster
und Verletzung von Bindungsbedürfnissen einher.[47]
Die Bindungstheorie trägt zur
Erklärung bei, warum durch positive Beziehungserfahrungen (das Angebot einer
sicheren Bindung, welche zugleich auch Autonomie gewährt; Hilfe wird nicht
durch Verlust von Freiheit bezahlt) die therapeutisch so überaus wichtige
Erwartung einer Besserung induziert werden kann. Allein die Aufnahme einer
Psychotherapie befriedigt den Bindungswunsch des Patienten und reduziert sein
Erleben von Kontrollverlust. Die schnelle Verbesserung des Befindens schon in
einer frühen Phase des Therapieprozesses erklärt sich Grawe durch die
positiven Kontrollerfahrungen, die der Patient in der Therapiebeziehung machen
kann, und durch die Aussicht auf immer bessere Kontrolle und Orientierung. In
der Geborgenheit einer verlässlichen, unterstützenden, die Identität des
Patienten bestätigende und seinen Selbstwert erhöhenden Therapiebeziehung kann
der Patient wieder Hoffnung schöpfen und Entlastung erfahren.
Grawe zitiert Greenberg et al.
(1993), die folgende beziehungsabhängige Wirkfaktoren von Psychotherapie
postulieren:
1.
Sicherheit und Aufgehobensein in der Therapiebeziehung
machen Verarbeitungskapazität frei.
2.
Die Fokussierung auf die unmittelbare innere
emotionale Erfahrung des Patienten bringt mehr als die Auseinandersetzung mit
verbalen Inhalten.
3.
Dabei sind nonverbale Übungen zur
bottom-up-Aktivierung von emotionalen Schemata[48] und
des impliziten Gedächtnisses wertvoll.
4.
Der Patient soll vom Therapeuten ermuntert
werden, sich realen Angstsituationen auszusetzen, um neue Erfahrungen zu
machen und seine neuronalen Erregungsmuster umzustrukturieren.
5.
Der Patient benötigt Gelegenheit, Gefühle in
Situationen auszudrücken, in denen er diese noch nie ausgedrückt hat, z.B. in
einem Gespräch mit einem toten Elternteil. Er soll dabei seine eigenen
Vermeidungsmechanismen kennen lernen.
Der Patient benötigt korrigierende Erfahrungen in der Hier-und-Jetzt-Interaktion mit dem Therapeuten.
Der Patient benötigt korrigierende Erfahrungen in der Hier-und-Jetzt-Interaktion mit dem Therapeuten.
Korrigierende (Grawe spricht
von korrektiven) Erfahrungen kommen nach Silberschatz (1986) und nach Weiss,
Sampson und The Mount Zion Psychotherapy Research Group (1986) zustande, wenn
der Therapeut die Beziehungstests des Patienten besteht. Patienten kommen in
die Behandlung einerseits mit positiven Zielen, die ihrer Selbstverwirklichung
dienen, andererseits mit Befürchtungen (pathogenic beliefs), die zu einem
Verhalten führen, das den intentionalen Schemata der Patienten abträglich ist
und zur Bestätigung ihrer Befürchtungen und Vermeidungsschemata führt. Sie
testen ihre Therapeuten, ob diese sie im Sinne ihrer Ziele annehmen und sie
ihnen in dieser Hinsicht vertrauen können. Sie provozieren unbewusst das
befürchtete Verhalten des Therapeuten und sind erleichtert, wenn der Therapeut
empathisch im Sinne der dem Beziehungstest zugrundeliegenden
Bindungsbedürfnisse des Patienten reagiert. Der Therapeut enttäuscht sozusagen
die Befürchtungen des Patienten. Wenn der Therapeut den Test besteht, d.h.
sich im Sinne der Wünsche und nicht der Befürchtungen verhält, entwickelt
sich eine vertrauensvollere Therapiebeziehung, und korrektive emotionale
Erfahrungen stellen sich ein. Grawe betont, dass sich das wirksame
therapeutische Geschehen überwiegend auf der prozessualen Ebene abspielt, zum
Teil auch ohne dass es thematisiert und bewusst gemacht wird.[49]
Doch auch Grawe geht es um die
Entwicklung von Bewusstsein. Er will die reale Beziehung zwischen dem Patienten
und dem Therapeuten sowie die realen Beziehungen in der Familie oder
Therapiegruppe nutzen, um schädliche Bindungsstile[50] und
Beziehungsmuster[51]
sichtbar zu machen und zu bearbeiten. Er sieht sich durch die Bindungsforschung
in seiner Auffassung bestätigt, dass sich das zwischenmenschliche
Beziehungsverhalten des Patienten positiv verändern muss, wenn der Patient eine
dauerhafte Besserung seiner Störung erreichen will[52].
Oben wurde bereits betont, dass der Patient sich auch ohne Einsichten positiv
verändern kann. Korrektive Erfahrungen in der Therapiebeziehung haben jedoch
eine höhere Chance, generalisiert, also auch auf andere Beziehungen übertragen
zu werden, wenn sie in den bewussten Funktionsmodus transformiert wurden.
Grawe betont, dass Menschen nicht
nach einem einfachen behavioralen Verstärkungsprinzip funktionieren. Er
plädiert - besonders im Umgang mit schwierigen Patienten mit unklaren oder
konfligierenden motivationalen Schemata - für eine „komplementäre[53]
Beziehungsgestaltung“. Der Patient bringt sich in die Therapiebeziehung
mit oft unbewussten Oberzielen, seinen Identitätszielen ein. Diese scheinen bei
vordergründiger Betrachtung oft seinen eigenen Interessen zuwiderzulaufen. Es
gilt, die unbewussten Ziele aus dem nonverbalen Verhalten des Patienten zu
erschließen, zu verstehen und gezielt zu bestätigen, statt, von der
Gegenübertragung geleitet, den Patienten abzulehnen oder zu kritisieren
(Grawe, 1992, 1996). Durch Befriedigung der Identitätsziele nimmt die Volitionsstärke
für diese und das damit verbundene, scheinbar kontraproduktive Verhalten des
Patienten vorübergehend ab. Der Patient erscheint verblüffend verändert.
Andere Intentionsziele können höhere Volitionsstärken erzielen, wodurch die
therapeutische Arbeit besser vorankommt. Die Identitätsziele sind jedoch
unstillbar. Gerade problematische Identitätsziele müssen langfristig bestätigt
werden, damit sich der Patient in Richtung alternativer Ziele verändern kann.
Aus interpersonaler Sicht muss
hinsichtlich der Bedeutung der Therapiebeziehung eine Einschränkung gemacht
werden: Der Therapeut ist nicht die einzige und häufig nicht die wichtigste
Realbeziehung des Patienten. Statt einer Übertragungsarbeit ist es oft
sinnvoll, direkt an den Realbeziehungen des Patienten, idealer Weise unter
Einbeziehung des Partners oder der Familie, zu arbeiten. Der systemische
Ansatz fragt weniger nach den Entstehungsbedingungen und unbewussten
Motivationen für eine interpersonale Störung als vielmehr nach den redundanten
Mustern des Verhaltens und der Kommunikation sowie den Möglichkeiten ihrer
Veränderung.
Systemische Therapeuten
erwarten von der Veränderung von familiären Interaktionsmustern eine direkte
Wirkung auf die psychische Störung. Grawe sieht aber gerade diese zentrale Annahme
der Familientherapie, dass Verbesserungen der Familieninteraktion die Symptome
der psychischen Störung des identifizierten Patienten verbessern, noch nicht
ausreichend empirisch bestätigt. Es gibt wahrscheinlich keine spezifischen
Familienkonflikte, die zu bestimmten Störungsbildern führen (z.B. „die“ Anorexiefamilie).
Die Zusammenhänge sind ähnlich wie in der Psychosomatik eher unspezifisch. Eine
alleinige systemische Behandlung des Familienkonflikts reicht nicht aus,
sondern muss kombiniert werden mit ressourcenaktivierenden und störungsspezifischen,
intentionsrealisierenden Interventionen.
Die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation in der Therapiebeziehung
Grawe ist der Auffassung, dass
das Gespräch und sein Inhalt in vielen Therapierichtungen überbetont wird.
Therapeuten müssen prozessual wahrnehmen, denken und handeln lernen.
Unbewusste Ziele und Motivationen des Patienten sind oft nur aus dessen
nonverbalen Verhalten[54] zu
erschließen. Oft sind die nonverbalen Prozesse zu schnell, als dass sie zu
bewussten Wahrnehmungen, die überwiegend in der linken Hemisphäre des Gehirns[55]
verarbeitet werden, führen könnten (Merten 1996). Der Therapeut ist dann auf
seine rechte Hemisphäre (Intuition, Introspektion) angewiesen, die eine
signifikant bessere Decodierfähigkeit für nonverbale Informationen
auszeichnet.[56]
Patienten sind zufriedener mit
Therapeuten mit hoher Dekodierfähigkeit[57] und
noch mehr mit guter Enkodierfähigkeit[58].
Nach Krause (1997) korreliert das nonverbale Verhalten des Therapeuten mit dem
Therapieergebnis. Der Patient kann den echten Ausdruck von Emotionen, z.B. die
Anteilnahme des Therapeuten, in dessen Gesicht (zum großen Teil unbewusst)
erkennen, und das löst bei ihm reziprokes Verhalten aus. Umgekehrt wirkt das
nonverbale Patientenverhalten wie ein interpersonaler Attraktor, der das
nonverbale Verhalten anderer in ein entsprechendes Interaktionsmuster
hineinziehen kann. Der Interaktionspartner, hier der Therapeut, wird in eine
bestimmte emotionale Verfassung versetzt, „angesteckt“ (entspricht in etwa dem
Begriff der Gegenübertragung) und reagiert auch reziprok, ohne dass es ihm
unbedingt unbewusst ist (Scheflen, 1974). Krause zeigte, dass bessere
Therapieergebnisse (Korrelation 0,69) erzielt werden, wenn Therapeut und
Patient schon in der ersten Sitzung nonverbal unterschiedliche Leitaffekte
zeigen, weniger gute, wenn beide negative, am schlechtesten, wenn beide
positive Affekte zeigen (Anzeichen von Vermeidung der Aktualisierung der
Probleme des Patienten).
Diese Erkenntnisse führen zu
einigen sehr konkreten praktischen Empfehlungen zur Verwendung der
Körpersprache: Krause hält es für notwendig, dass sich der Therapeut
"unsozial" verhält, indem er gerade nicht reziprok auf implizit
unbewusste Konflikte reagiert. Wie oben erwähnt fordert Grawe, dass der
Therapeut auf das Beziehungsangebot des Patienten komplementär reagiert. Dazu
soll der Therapeut die erste Sitzung sorgfältig vorbereiten und Informationen
(z.B. Videos) über das Beziehungsverhalten des Patienten einholen, um nicht
auf Beziehungstests hereinzufallen und in ein ungünstiges Beziehungsmuster
hineingezogen zu werden. Krause empfiehlt, Therapeuten sollten zum Patienten
hingeneigt sitzen, die Arme offen halten, mit dem Kopf nicken und Gesagtes mit
Gesten unterstreichen. Wichtig sei ein kompetent-professioneller und warmer
Tonfall. In der Supervision sollte über Patienten so geredet werden wie mit
ihnen: professionell, kompetent, aber warm, besorgt und ehrlich. Grawe will das
Training der nonverbalen Kommunikation in der Psychotherapieausbildung fest
verankern.
Unbewusste und bewusste Prozesse
In den Neuro- und
Kognitionswissenschaften gilt es als erwiesen, dass unbewusste Prozesse für das
psychische Geschehen eine wesentliche Rolle spielen[59]. So
wird das, was wir wahrnehmen und erleben können, wesentlich durch die
Beschaffenheit unseres Nervensystems und seiner Reizverarbeitungsmechanismen
vorgegeben.[60]
Wir haben aber kein Bewusstsein dafür, in welchem Ausmaß unsere neuronale
Beschaffenheit unsere Wahrnehmung bestimmt, sondern leben in dem Gefühl, dass
unsere Wahrnehmungen durch unsere Umgebung bestimmt werden. Selbst das
konsistente Selbsterleben im Sinne des subjektiven Eindrucks von Einheit und
Kontinuität des seelischen Geschehens ist eine Konstruktion neuronaler
Prozesse, sicher nützlich, aber eben doch nur eine trickreiche Selbsttäuschung,
welche die tatsächliche neuronale Organisation mentaler Prozesse verborgen hält
.
Auch für Grawe ist die
Existenz eines unbewussten Funktionsmodus und eines Filters zwischen
bewussten und unbewussten Vorgängen nicht nur eine psychoanalytische Annahme,
sondern ein empirisch gesichertes Phänomen. Im Gehirn laufen eine Fülle
unbewusster Informationsverarbeitungsprozesse simultan-parallel ab. Nur ein
kleiner Teil dieser Prozesse erlangt die Erlebnisqualität des Bewusstseins. Bewusstsein
entsteht neurophysiologisch gesehen dadurch, dass der Rhythmus der
Aktionspotentiale von Neuronenverbänden (z.B. des limbischen Systems, das
Emotionen repräsentiert) mit dem Rhythmus von Neuronenverbänden in bewusstseinsspezifischen
Hirnarealen (z.B. die perisylvinische Region, deren Zellen für verbal-syntaktische
Aufmerksamkeitsleistung zuständig sind) synchronisiert wird. [61]
Die Voraussetzung dafür, dass
ein Reiz und das von ihm ausgelöste Erregungsmuster (z.B. eine Wahrnehmung oder
eine Emotion) ins Bewusstsein gelangen kann, ist, dass es dort schon einmal
war, d.h. dass die synaptischen Verbindungen zu den bewusstseinsspezifischen
Neuronenverbänden bereits vorgebahnt sind. Diese Vorbahnung, diese
erleichterte Aktivierbarkeit von bestimmten Erregungsmustern (und damit
psychischen Vorgängen) in bewusstseinsspezifischen Hirnarealen kommt durch
Lernprozesse zustande. Bewusste und auch unbewusste Lernprozesse sind auf
neuronaler Ebene nichts anderes als die Anlage neuer Nervenverbindungen, die
im Ergebnis zu neuen und komplexeren, besser angepassten synchronisierten Erregungsbereitschaften
von Neuronenverbänden führen. Ein Mehr
an Bewusstsein ist für Grawe weniger die Entdeckung von mystisch in den Tiefen
des Seelenlebens verborgenen Informationen, sondern eine konstruktive
Neuschöpfung von neuronalen Gruppen, die in gespeicherter Form als bewusster
Gedächtnisinhalt in Erscheinung tritt. [62]
Grawe vergleicht die bewusste
Aufmerksamkeit mit einem Scheinwerferkegel, der in alle möglichen Richtungen
gerichtet werden kann. Je nach übergeordneter Intention wird mal der eine oder
der andere Bereich ausgeleuchtet. Am Rande des maximal ausgeleuchteten
Bereiches gibt es weniger helle bis dunkle Bereiche entsprechend der
abnehmenden Grade von unscharf bewussten bis völlig unbewussten Prozessen. Die
bewusste Aufmerksamkeit von Menschen gilt in der Regel dem, was sie gerade
tun.[63] Der
Bewusstseinsscheinwerfer kann aber auch zur Seite gerichtet werden auf die
Dinge, die um einen herum geschehen. Man kann den Scheinwerfer auch nach unten
richten, nämlich darauf, w i e man die Dinge genau tut, wie man sich dabei
fühlt, welche physiologischen und muskulären Vorgänge sich dabei abspielen
(z.B. Herzklopfen oder Anspannung der Gesichtsmuskeln), welche komplexen
Bewegungsmuster man automatisch ausführt. Den Lichtkegel kann man auch nach
oben werfen, auf die Ebene der übergeordneten Intentionen, auf die selbstreflexive
Frage, warum oder wozu man das tut, was man tut, oder etwas nicht tut. Je
weiter wir uns mit unserer bewussten Aufmerksamkeit von dem alltäglichen Beschäftigt-Sein
entfernen, desto ungewohnter und schwieriger ist die bewusste Verarbeitung. Die
höchste Ebene der Kontrollhierarchie, auf die der Bewusstseinsscheinwerfer
gerichtet werden kann, ist die Frage, mit welchen Mitteln das psychische
Geschehen seine Konsistenz erhält und die Stabilität des Gesamtsystems, des
Selbst und seiner Identität gewährleistet.[64]
Bewusstseinspezifische Zellverbände
binden also nach Grawes Auffassung andere Erregungsmuster nicht willkürlich zu
neuen Bewusstseinsinhalten zusammen. Vielmehr stehen sie – zum Teil unbewusst
– unter dem Einfluss einer Rangordnung mächtiger, bereits vorhandener, teils
angeborener, teils erworbener neuronaler Erregungsbereitschaften, nämlich der
bereits oben erwähnten motivationalen, emotionalen und interpersonalen
Attraktoren[65].
Lern- und Bewusstseinsprozesse stehen im Dienst dieser Hierarchie
grundlegender Attraktoren und werden durch die Bedürfnisspannung energetisiert.[66]
Bewusstsein ist folglich ein Produkt der motivationalen, emotionalen und
interpersonalen Attraktoren und zugleich ihr mächtigster Kontrollparameter:
Motivationale, emotionale und interpersonale Attraktoren verändern sich am
wirksamsten und nachhaltigsten unter der Kontrolle der bewussten Kommunikation
zwischen Therapeut und Patient.
Implizites und explizites Gedächtnis
Lern- und Bewusstseinsprozesse
sind auf Gedächtnis, d.h. auf eine neuronale Speicherfunktion angewiesen. Das
ererbte, artspezifische Gedächtnis enthält überlebenswichtige affektive
Regulationsmechanismen, die nicht von jedem Individuum neu gelernt werden
müssen. Dazu gehören in allen Kulturen zu beobachtende, also kulturell
invariante affektive Ausdrucks- und Reaktionsbereitschaften: Überraschung,
Freude, Ärger, Traurigkeit, Furcht und Ekel.[67] Vom
angeborenen Gedächtnis ist das erworbene Gedächtnis abzugrenzen. Perrig,
Wippich und Perrig-Chiello (1993) unterscheiden zwischen einem nicht-deklarativen,
implizit-perzeptuellen und einem deklarativen, explizit-konzeptuellen Gedächtnis.
Das phylogenetisch ältere implizit-perzeptuelle Gedächtnis
ermöglicht einfache, automatisch ablaufende Lernprozesse ohne Beteiligung bewusstseinsspezifischer
Neuronenverbände. Es steuert automatische Bewegungsabläufe und
Verhaltensweisen. Es ermöglicht schnelle Reaktionen ohne vorangehende bewusste
Bewertungs- und Entscheidungsprozesse. Der größte Teil der menschlichen
Lernprozesse erfolgt implizit, also ohne Bewusstsein. Beispiele für implizites
Lernen und perzeptuelles Gedächtnis sind das Priming[68] und
Konditionierungen[69], das
frühkindliche Beobachtungslernen am Modell der Eltern, Internalisierungs- und
Identifikationsprozesse, das prozedurale Lernen von Sprachregeln und von
komplexen Bewegungsprogrammen wie das Gehen, das Lernen von Beziehungsregeln
oder das Ausdrucksverhalten in der nonverbalen Interaktion. Auch Konflikte und
emotionale Erfahrungen werden implizit im emotionalen Gedächtnis gespeichert und
zwar in Form von emotionalen Schemata.[70] Für
Grawe sind unbewusste Konflikte implizite Gedächtnisinhalte, die sich auf das
gegenwärtige Erleben und Verhalten auswirken wie viele andere Inhalte des
impliziten Gedächtnisses auch. Nach Epstein besteht zudem eine enge Verbindung
des impliziten Funktionsmodus zum Immunsystem, ein Zusammenhang, der sich für
die therapeutische Beeinflussung auch biologischer Prozesse (z.B. in der
Psychosomatik) nutzen lassen soll.
Implizit-perzeptuelle
Gedächtnisinhalte und emotionale Schemata sind introspektiv dem Bewusstsein
nicht zugänglich, nicht dem Willen unterworfen und lassen sich nicht beliebig
ein- oder ausschalten. Sie werden bottom-up automatisch durch relevante
Bedingungen, durch ihre unbewussten Kontrollparameter ausgelöst. Dieser Umstand
ist für das Verständnis psychischer Störungen bedeutsam: Der Kranke hat keine
Kontrolle über die der psychischen Störung zugrunde liegenden impliziten
Gedächtnisinhalte. Er scheint einem irrationalen Geschehen machtlos ausgeliefert.
Williams et al. (1988) kamen z.B. durch viele Experimente zu dem Schluss, dass
Angststörungen durch eine implizite, durch priming entstandene erhöhte Bereitschaft
entstehen, bedrohliche Reize aus dem breiten Reizangebot präattentiv bevorzugt wahrzunehmen.
Unbewusst scannen die Kranken quasi ihre Umgebung nach bedrohlichen Reizen ab.
Wahrnehmung und die interpretierende kognitive Verarbeitung erfolgen nicht
getrennt und nacheinander, sondern der Angstkranke fühlt den Schmerz in der
Brust direkt und sofort als Herzanfall (positiver Rückkoppelungsprozess).
Die Aufrechterhaltung von
dysfunktionalen Schemata im impliziten Gedächtnis erfolgt nach Greenberg (1993)
mittels
·
selektiver und verzerrender Wahrnehmung
·
Vermeidung neuer Erfahrung und der Konfrontation
mit problematischen Emotionen durch abstrakte, konzeptuelle Informationsverarbeitung,
die den Zugang zum impliziten Gedächtnis versperrt (keine bottom-up-Aktivierung
emotionaler Schemata)
·
totaler Besetzung der Verarbeitungskapazität
durch aktivierte Schemata, so dass keine weiteren Informationen verarbeitet
werden können, die das Schema korrigieren könnten.
Daher fordert Greenberg in der
Therapie die Bewusstmachung der emotionalen Schemata und ihre Restrukturierung.
Der Patient soll Aufmerksamkeit auf die echten Emotionen lenken und diese
zulassen lernen. Das kann aber nur gelingen, wenn die implizit-perzeptuellen Gedächtnisinhalte
und emotionalen Schemata zuvor bottom-up prozessual aktiviert werden. Eine
solche prozessuale Aktivierung erreicht z.B. das Psychodrama, das Aufstellen
von Familienkonstellationen, die verhaltenstherapeutische Reizexposition oder
auch die Konfrontation mit dem therapeutischen Beziehungsangebot. Wie bereits
erwähnt, gewinnt man wesentliche Informationen über implizite
Gedächtnisinhalte nicht durch Befragen des Patienten, sondern durch Beobachten
seines nonverbalen Ausdrucksverhaltens und der Besonderheiten in der zwischenmenschlichen
Interaktion.
Epstein empfiehlt die
therapeutische Nutzung von Religion, Astrologie und Esoterik, die neuronale
Prozesse in den phylogenetisch älteren Hirnteilen und damit das implizite
System stärker aktivieren als verbal-rationale Techniken. Er sieht keinen
Grund, auf Rituale, Magie, Gebet und gemeinsames Singen zu verzichten, wenn
diese – unter weitgehender Ausschaltung des rational-analytischen
Funktionsmodus – das menschliche Bedürfnis nach Kontrolle des Weltgeschehens,
nach Gemeinsamkeit und Trost besser erfüllen können als kognitive Methoden.
In das explizit-konzeptuelle Gedächtnis finden solche Erfahrungen Eingang,
die zuvor im Bewusstsein mit Bedeutung versehen wurden. Die Inhalte des
Erinnerungsbewusstseins sind durch eine bewusste Interpretationsfunktion irgendwann
bewertet worden. Diese Interpretationsfunktion wird besonders deutlich am Beispiele
des autobiographischen oder episodischen Gedächtnisses, das aus der Fülle tatsächlicher
Erlebnisse nur eine begrenzte Selektion wahrscheinlich für das Individuum
besonders bedeutsamer und damit bewusster und willentlich abrufbarer
Lebenserfahrungen speichert.[71] Ein
weiteres Beispiel für die explizit-konzeptuelle Gedächtnisfunktion ist das
semantische Gedächtnis, das Zeichen und Worte mit bewussten Bedeutungen[72]
versieht.
Implizites und explizites
Lernen und Gedächtnis stehen sich keineswegs antagonistisch entgegen, sondern
ihr Zusammenwirken ermöglicht erst Entscheidungsprozesse, höheres Lernen und
Wissensaufbau. Im Therapieprozess sind die besten Ergebnisse zu erwarten, wenn
therapeutisch sowohl implizite Lernprozesse (z.B. korrektive Erfahrungen) als
auch explizite Lernprozesse (z.B. Einsichten) induziert werden.
Ob im impliziten oder im
expliziten Funktionsmodus, die Funktionsweise unseres Nervensystems kann als
ständige Umwandlung von Erfahrungen in Erwartungen an die Umwelt angesehen
werden, von denen einige verworfen, andere bestätigt, verstärkt und in Form
neuronaler Erregungsbereitschaften im Langzeitgedächtnis gespeichert werden[73].
Unser Gedächtnis erlaubt uns nur in beschränkten Maß, Vergangenes in die Gegenwart
zu transportieren. Denn aufgrund der begrenzten Kapazität des Kurzzeitspeichers
für bewusstes Erleben können nur neuronale Erregungsmuster mit starker Intensität
ins Bewusstsein vordringen. Grawe betont, dass der Transport alter Erfahrungen
ins Gegenwartsbewusstsein immer mit den Mitteln des heutigen Funktionierens,
unter den heutigen Motiven, heutigen Wahrnehmungs- und Denkkategorien erfolgt.
Erinnerungen (z.B. auch die Übertragung alter interpersoneller Erfahrungen vom
Patienten auf den Psychotherapeuten) sind ein aktuelles und kein vergangenes
Geschehen. Außerdem ist Erinnerung ist immer Transformation, Neukonstruktion.
Ein Zurück in die Vergangenheit ist unmöglich, weil die alten Gedächtnisspuren
in der Regel bereits mit neuen neuronalen Bahnungen überschrieben wurden. Zwar
können im Laufe des Therapieprozesses heftige Emotionen auftreten, die denen
der Vergangenheit ähnlich sind, weil sie noch nicht völlig überschrieben wurden. Aber selbst alte
emotionale Schemata sind heute in eine neue Attraktorlandschaft mit veränderten
Kontrollparametern eingebettet. Dennoch erkennt Grawe in einer vergangenheitsorientierten
Aufarbeitung, wie sie unter anderem in der analytischen Psychotherapie
praktiziert wird, einen möglichen Nutzen: Therapeut und Patient werden auf relevante
Problemaspekte und Kontrollparameter aufmerksam, die im gegenwärtigen
Querschnitt des Lebens und Erlebens des Patienten nicht sichtbar werden. Wenn
im Therapieprozess Erinnerungen aktiviert werden können, die das Erleben und Verhalten
des Patienten heute noch beeinträchtigen, können sie gezielt mit neuen Erfahrungen
überschrieben werden.
Das Selbst
Nach Manturana (1992) streben
lebende Systeme nach immer höherer Organisiertheit. Das erreichen sie durch
eine autopoietische, sich selbst reproduzierende Aktivität. Wir haben bereits
erfahren, dass das Streben nach Konsistenz aus der Systemperspektive das übergeordnete
Prinzip der dynamischen Selbstorganisation des psychischen Geschehens ist[74]. Powers
beschreibt die Organisation des psychischen Geschehens als Hierarchie von Regelkreisen,
die ihre Sollsignale von der jeweils höheren Ebene erhalten. Der höchsten Ebene
des Systems obliegt die Vermeidung von inkongruenten Wahrnehmungen. Vorrangiges
Sollsignal, das von dort den Attraktoren auf unteren Systemebenen vorgegeben
wird, ist das der Einheit und Vereinbarkeit der Prozesse auf den unteren
Ebenen. Epstein (1993) meint, dass auf der höchsten Systemebene ein
Selbstschema wirkt, eine implizite persönliche Theorie des Individuums über sich
selbst (Identität) und die Realität. Das Selbst trägt nach dieser Konzeption deskriptive
Postulate (Vorstellungen und Überzeugungen über sich und die Welt) und motivationale
Postulate oder Schemata (Erwartungen und Bereitschaften, was man tun und vermeiden
muss, um seinen Bedürfnissen gerecht zu werden) an die Umwelt heran. Das
eigentliche Selbst ist nach Epstein das implizite Selbst, das ist die Summe
aller, auch der unbewussten Vorstellungen, Überzeugungen, Erwartungen und
Bereitschaften (im Gegensatz zum Selbstbild des konzeptuellen Systems, das
keinen Einfluss auf das Verhalten und Erleben haben muss).
Das Selbst ist also für
Epstein keine eigene psychische Instanz, kein Homunculus, kein steuernder
Akteur, sondern Ausdruck und Ergebnis dessen, dass alle Postulate und Schemata
eine Einheit bilden. Das Selbst gibt bei Epstein – im Gegensatz zu Powers
Kontrolltheorie – keine Sollwerte vor. Die motivationalen Postulate des Selbst
erhalten ihre Sollwerte von den allen Menschen gemeinsamen Grundbedürfnissen.
Das Selbst, das subjektive
Erleben der eigenen Identität als Einheit und Kontinuum ist ohne das
episodische Gedächtnis nicht denkbar. Das episodische Gedächtnis hat nicht nur
eine retrospektive Seite, die als biographisches Gedächtnis in Erscheinung tritt,
sondern auch eine prospektive Seite: Es gewährleistet auch das Behalten von
Plänen und Absichten, die für ein bewusstes Selbstkonzept unentbehrlich sind.
Wenn Psychotherapie neben der reinen Symptombeseitigung einen Prozess der
Selbsterfahrung, Selbstfindung und Selbstverwirklichung fördern soll, ist der
zukunftsorientierte, planende, den Lebensentwurf des Patienten gestaltende
Aspekt wahrscheinlich wirksamer als die in die Vergangenheit gerichtete
Blickrichtung.
Die Bedeutung von Kontrollerfahrungen
Die Unkontrollierbarkeit von
aversiven Ereignissen und Reizen gehört für Menschen zu den
traumatisierendsten Erfahrungen, die sie am stärksten zu vermeiden trachten.[75] Das
ganze psychische Funktionieren ist nach Kelly (1957) auf Vorhersehbarkeit und
Kontrollierbarkeit ausgerichtet. Z.B. schützen sich Kinder gegen ein
unberechenbares elterliches Beziehungsverhalten durch Rückzug aus einer
ungeschützten Intimität. Das Vermeidungsziel des Kindes ist, nicht in seinen
Nähewünschen zurückgewiesen und enttäuscht zu werden.[76]
Das Kontrollbedürfnis wird von
jeder ernsten Erkrankung, im besonderen Maße von der Unbegreiflichkeit einer
psychischen Störung vehement verletzt. Daher kommt es in der Therapiebeziehung
darauf an, dem Patienten schon zu Beginn einer Therapie positive
Kontrollerfahrungen zu ermöglichen. Die Therapie soll so gestaltet werden,
dass sich der Patient im Sinne seiner mitgebrachten intentionalen bzw. motivationalen
Schemata verhalten kann. Initial bedürfniserfüllende Wahrnehmungen in der Beziehung
zum Therapeuten verbessern das Befinden des Patienten und erhöhen die
Wahrscheinlichkeit einer Symptomreduzierung. Anstelle des Versuches, den
Patienten zu möglichst vielen Einsichten im Sinne der Neurosenlehre des Therapeuten
zu verhelfen[77],
soll sich der Therapeut fragen, wie er dem Patienten positive Wahrnehmungen
im Sinne seines Bedürfnisses nach Orientierung und Kontrolle verschaffen kann.
Sachse (1992) fordert eine zielorientierte Gesprächspychotherapie, die nah am
Kern des vom Patienten Gemeinten dranbleibt. Es geht weniger darum, dass der
Patient einen bestimmten Inhalt versteht, sondern dass er das Gefühl hat,
etwas verstanden zu haben. Der Therapeut soll dem Patienten ein Rationale zur
Verfügung stellen, das den Eigenarten, Erwartungen und Überzeugungen des
Patienten entspricht und seinen Zustand
f ü r i h n zu erklären vermag. Aus diesem
verständlichen Erklärungsmodell soll sich eine klare, für den Patienten
transparente Struktur des therapeutischen Vorgehens ableiten.
Das Kontrollbedürfnis benötigt
neben klärungsorientierten Therapiemaßnahmen auch bewältigungsorientierte
Hilfestellungen sowie erkennbare Möglichkeiten für einen Eigenbeitrag des
Patienten im Sinne seiner Ziele .[78] Der
Patient soll zukünftig möglichst viele konkrete Handlungsmöglichkeiten als
Alternative zu seinen bisherigen Schemata erwerben. Mehr Kompetenz und
frühzeitige Bewältigungserfahrungen (z.B. Entspannungstraining) verbessern das
Gefühl von Selbstwirksamkeit und stärken so die Kontrollerfahrungen.
Psychotherapie bei Komorbidität
Grawe widmet dem Thema
Komorbidität, also der Feststellung mehrerer, gleichzeitig nebeneinander
bestehender Störungsbilder nach ICD oder DSM, erhebliche Aufmerksamkeit. Er wertet
die Komorbidität als Indiz für ein dauerhaft erhöhtes Inkonsistenzniveau, das
die Disposition für verschiedene psychische Störungen erhöht. Komorbidität
macht die Anwendung strikt auf eine isolierte Störung bezogener Therapiemanuale
problematisch. Es macht wenig Sinn, mehrere parallel in Erscheinung tretende,
z.B. psychosomatische Störungsbilder[79]
additiv mit den entsprechenden störungsspezifischen Therapiemanualen zu
behandeln. Es ist vielmehr erforderlich, ihre gemeinsamen motivationalen und
interpersonalen Attraktoren zu identifizieren und zu behandeln. Besonders bei
Komorbidität muss es das Therapieziel sein, neben der störungsspezifischen
Symptombeseitigung mit Hilfe einer motivationsverändernden Therapie die Inkonsistenz,
die den verschiedenen Störungsbildern zugrunde liegt, zu verringern.
Grawes Indikationsbogen zur diagnostischen Abklärung
Grawe hat zur Systematisierung
des psychodiagnostischen Abklärungsprozesses einen umfangreichen
Indikationsbogen entwickelt, auf dem sich der Therapeut Klarheit über folgende
Fragen verschaffen muss:
A. Welche behandlungsbedürftige Probleme liegen vor?
1.
Achse I – Störungen (nach DSM)
2.
Achse II – Störungen (Persönlichkeits- und
Entwicklungsstörungen)
3.
problematische Lebenssituation
4.
inkonsistenzerzeugende Konstellation motivationaler
Schemata
5.
problematische Beziehungsmuster und -abläufe
6.
sonstige Probleme
B. Schwerpunktsetzung:
Bewältigungs- oder klärungsorientiertes
Bewältigungs- oder klärungsorientiertes
Vorgehen für 1. - 6.
C. Therapiesetting
Welche Settings sind unter dem Aspekt der Ressourcenaktivierung und Problembearbeitung zu favorisieren?
Welche Settings sind unter dem Aspekt der Ressourcenaktivierung und Problembearbeitung zu favorisieren?
D. Eignung als Therapeut (Geschlecht, Alter,
wünschenswerte und kontraindizierte Merkmale)
E. Art der therapeutischen Beziehungsgestaltung
(komplementär, zu erwartende
Beziehungstests)
F. Therapiemotivation
G. Indikationsstellung: Welches Therapieangebot scheint
das beste?
Ein Therapieangebot soll dem
Patienten erst nach einer Indikationskonferenz mit erfahrenen Therapeuten
gemacht werden. Damit wird dem Patienten ein hohes Maß von Professionalität
vermittelt und auf optimale Weise Besserungserwartungen induziert.
Grawes Therapieplanungsbogen
Therapeuten sollen sich über
folgende Fragen schriftlich Klarheit verschaffen:
1. Welche Ressourcen können wie aktiviert werden?
2. Welche Achse-I-Störungen (nach DSM) sind mit
störungsspezifischen Interventionen zu behandeln? Welche Komponenten sollen
wie bearbeitet werden (Heranziehen von Therapiemanualen)?
3. Welche Beziehungsmuster (z.B. Koalitionsbildung,
Triangulierung, diffuse Grenzen, symmetrische Eskalation, Kollusion) sollen
wie bearbeitet werden?
4.1. Welche bewussten intentionalen und Vermeidungsschemata
sollen wie aktiviert und verändert werden?[80]
Welche korrektiven Erfahrungen soll der Patient machen?
4.2. Welche unbewussten Konfliktschemata[81] einschließlich
ihrer intentionalen und ihrer Vermeidungskomponente sollen wie prozessual aktiviert,
der Aufmerksamkeit zugänglich gemacht und mit korrektiven Erfahrungen verbunden
werden?
5.1. Wie kann eine komplementäre Beziehungsgestaltung
inhaltlich verbal (Ausdrücke, Worte, Sätze, Bilder) und nonverbal (Zuwendung) erreicht werden?
5.2. Welche Beziehungstests sind zu erwarten? In welchem
Verhalten zeigen sie sich, welche Wünsche und Befürchtungen stehen dahinter?
Wie soll sich der Therapeut verhalten?
6. Für welche Ziele und für welches Vorgehen ist der
Patient am meisten motiviert (Volitionsstärke)?
7. Konkretes Vorgehen, in welcher Reihenfolge, mit
welchen Mitteln?
Grawes Indikations- und
Therapieplanungsbogen leuchten als praktische Konsequenz aus seinen
theoretischen Überlegungen ein. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Grawe
den Therapeuten einiges an Fleiß und Disziplin abverlangen will. Ob der
Anspruch einer so aufwendigen Strukturierung und Vervollständigung des
diagnostischen und therapeutischen Vorgehens mit den motivationalen und
habituellen Schemata der meisten Therapeuten vereinbar sein wird, bleibt
abzuwarten.
Grawes Verhältnis zur Psychoanalyse
Grawe teilt mit der
Psychoanalyse ein lebhaftes Interesse an unbewussten Motivationen sowie intra-
und interpersonalen Konflikten, die auch er bei der Entstehung und
Aufrechterhaltung von psychischen Störungen für ätiologisch hoch relevant
ansieht. Die psychoanalytische Grundannahme, dass frühe Beziehungserfahrungen
von Kindern einen sehr großen Einfluss auf ihre weitere Beziehungsgeschichte
haben, erkennt Grawe als durch die Bindungsforschung empirisch bewiesen an.
Seine Kritik richtet sich
gegen die Methoden der Erkenntnisgewinnung in der Psychoanalyse, die mit Grawes
Paradigma einer empirisch fundierten Wissenschaft unvereinbar sind und zu abenteuerlichen
Spekulationen geführt haben.[82] Insbesondere
Freuds Sexualtheorie und sein Instanzenmodell (Ich, Über-Ich, Es) ist für
Grawe überholt. In seinem Buch „Psychotherapie im Wandel“ (Seite 662) legt Grawe dar, dass die Technik
der Psychoanalyse und der von ihr abgeleiteten Therapieverfahren in wesentlichen Indikationsbereichen der
Verhaltenstherapie signifikant unterlegen ist.[83] Zwar
erkennt Grawe eine gewisse therapeutische Wirksamkeit psychodynamischer Interpretationen,
denen die Psychoanalyse eine so überragende Bedeutung beimisst, an.[84] Er
kommt aber zu dem Schluss, dass inhaltliche Deutungen weit hinter der Bedeutung
der von ihm hervorgehobenen und von der Psychoanalyse vernachlässigten
Wirkfaktoren zurückbleiben.
Der Buchuntertitel „Von der
Konfession zur Profession“ bezieht sich auf empirisch unhaltbare Dogmen der
Psychotherapie. Ein von der Psychoanalyse vertretenes Dogma ist unter anderem
die Notwendigkeit langer und hochfrequenter Therapie bei bestimmten
Indikationen.[85] Grawe empfiehlt mit Howard et al. (1991)
einen Wechsel von Therapieart und Therapeuten, wenn der Patient nach 25
Sitzungen Psychotherapie noch keine Besserung verspüren sollte, weil er
objektiv immer schlechtere Aussicht auf eine Besserung hat. Grawe wirft der
Psychoanalyse vor, auf das zweite von ihm benannte Wirkprinzip, nämlich die
gezielte Beseitigung der Störungsattraktoren durch störungsspezifische
Techniken[86]
ohne Not zu verzichten. Ein Therapeut muss über störungsspezifisches Know-how
verfügen, er muss wissen, an welchen Komponenten und Kontrollparametern der
Störung er wie am besten ansetzt. Grawe sieht keinen Grund für die Annahme
einer Symptomverschiebung, die immer wieder angeführt wird, um die
psychoanalytische Behandlungstechnik gegen verhaltensorientierte Konzepte zu
verteidigen.
Grawe ist der Auffassung, dass
die Psychoanalyse paradoxerweise gerade das verfehlt, was sie anstrebt,
nämlich eine gute Therapiebeziehung[87] und
die Offenlegung unbewusster Prozesse. So wird in seinen Augen in der psychoanalytischen
Standardsituation das implizite Gedächtnis, in dem unbewusste Lernerfahrungen
gespeichert sind, prozessual denkbar wenig stimuliert. Die Technik der freien
Assoziation und die dominierende Rolle der gesprochenen Sprache erreicht nur
das konzeptuelle Gedächtnis. Umfangreiche biographische Aufarbeitungen und
Wirklichkeitsrekonstruktionen haben möglicherweise geringe oder keine Relevanz
für die aktuellen, den Störungsattraktor stabilisierenden Kontrollparameter und
inkonsistenzerzeugenden Schemata.
Nach Grawe ist der
psychodynamische Ansatz verkürzt, da er sich auf einen kleinen Ausschnitt der
Fülle unbewusster Prozesse beschränkt, nämlich auf solche, die ursprünglich
schon einmal im Bewusstsein gewesen sein und durch Verdrängung aktuell am
Bewusstwerden gehindert werden sollen. Für Grawe sind vor allem die
unbewussten Prozesse, die noch nie bewusst waren, bedeutsam. Der in dunkler
Vergangenheit durch fragliche Mechanismen unbewusst gewordene Primärprozess
mag in Einzelfällen bedeutsam sein. Für Grawe bedeutsamer sind aber die
übergeordneten, durch Psychotherapie zum ersten Mal als bewusster Inhalt
auftretenden Intentionen und Ziele des Patienten. Daher will er mit Powers
statt von Tiefenpsychologie lieber von Höhenpsychologie (ganz im Sinne der
Ressourcenorientierung) sprechen. Sein system- und schemadynamisches
Verständnis kann man in diesem Sinne als final ausgerichtet, gegenwarts- und
zukunftsorientiert (im Unterschied zum vergangenheitsorientierten kausal-mechanistischen
Wirklichkeitsmodell) bezeichnen.
Neben der Verfehlung
wesentlicher unbewusster Prozesse kritisiert Grawe an der Psychoanalyse die
schädlichen Auswirkungen ihrer Theorie und Methode auf die Therapiebeziehung.
Das rigide Setting und reduktionistische Vorverständnis des Psychoanalytikers
über die Natur des Menschen und seine grundlegenden Antriebe, über die pathologischen
Mechanismen menschlicher Verhaltenssteuerung, Beziehungsgestaltung und
Symptombildung behindern, dass die in der Therapiebeziehung aktivierten
Bedürfnisse und Identitätsziele des Patienten befriedigt und konsistenzstärkende
und korrektive zwischenmenschliche Erfahrungen gemacht werden können. Mit
Wile (1984) erkennt Grawe in der psychoanalytischen Theorie (nach welcher der
Patient infantilen Impulsen nachgibt, defensiv ist, Entwicklungsdefizite und
Widerstände hat) eine Feindseligkeit, die sich nachteilig auf die Haltung des
Therapeuten, auf die Qualität von Übertragungsdeutungen und schließlich auf
die Therapiebeziehung auswirkt.
Trotz aller Kritik an der
psychoanalytischen Praxis hört Grawe keineswegs auf, konfliktdynamisch zu
denken. Beim Lesen des Buches meint man immer wieder, eine Vorliebe für
ätiologisch relevante unbewusste Motivationen, unbewusste intra- und
interpersonale Konflikte, für eine system-dynamische Konzeption des Selbst als
strukturelle Disposition für Gesundheit oder Krankheit und für die
therapeutische Nutzung eines lebendigen Übertragungsgeschehens zu erkennen.
Wo kann man Grawe in der psychotherapeutischen Landschaft einordnen
Grawe zeigt einen
multiperspektivischen Zugang zum psychisch kranken Menschen: Seine klientenzentrierte
Ausrichtung an den individuellen Bedürfnissen und Ressourcen der Patienten und
seine empathisch-wertschätzenden Grundhaltung zeichnen ihn als humanistischen
Psychotherapeuten aus. Mit seiner operationalisierenden, schemaanalytischen
Kausalitäts-, Handlungs- und Ergebnisorientierung steht er der kognitiven
Verhaltenstherapie nahe. Sein konfliktdynamisches Modell bewusster und unbewusster
(impliziter) intentionaler, emotionaler, vermeidender und interpersonaler
Schemata scheint geeignet, traditionelle psychoanalytische Konstrukte zu
rehabilitieren. Mit Hilfe der Systemtheorie verbindet Grawe die verschiedenen
Perspektiven zu einer einheitlichen Theorie der Krankheitsentstehung und
Wirksamkeit von therapeutischer Beziehung und psychotherapeutischen
Techniken.
Vergleich Grawe – Peseschkian
Grawes Postulate basieren auf
eigenen systematisch-statistisch-empirischen Untersuchungen und einer
umfangreichen Metaanalyse einer Fülle von Studien maßgeblicher anderer Psychotherapieforscher.
Sein Modell einer Allgemeinen Psychotherapie stellt quasi ein Konzen-trat der
Essenzen aus einer Vielzahl eigener und fremder Studien dar. Es stimmt in den
Grundzügen und in erstaunlich vielen Teilaspekten mit dem Therapiekonzept von
Nossrat Peseschkian überein und muss als hervorragende wissenschaftliche
Untermauerung des in den siebziger Jahren begründeten Modells der Positiven Psychotherapie
gewürdigt werden.
Die wichtigste Gemeinsamkeit
von Grawe und Peseschkian scheint mir das positive, humanistisch geprägte,
wertschätzende und optimistische Menschenbild zu sein, dessen über den
ethischen Anspruch hinausgehender praktischer Nutzen von Grawe rational,
empirisch-wissenschaftlich begründet wird. Der psychisch kranke Mensch wird
grundsätzlich nicht als das Resultat deformierender, gegen atavistische Triebe
gerichteter Abwehrmechanismen angesehen, sondern als Träger einer Vielzahl
von wertvollen, offen erkennbaren und schlummernden Fähigkeiten. Als
energetisierende Quelle gesunder wie krankhafter Prozesse werden natürliche
menschliche Bedürfnisse, Ziele und Werte (die an ihrer Realisierung gehindert
sein können) angenommen. Grawe wie Peseschkian suchen im Kranken nicht primär
die Pathologie, sondern die gesunden Anteile, die Ressourcen, auf denen die
therapeutische Arbeit aufbauen kann. Das Anliegen, den Kranken von Anfang an mit selbstwertstärkenden,
seine Bindungs- und Kontrollbedürfnisse befriedigenden Erfahrungen zu versorgen
(bei Peseschkian das Stadium der Verbundenheit), ist eine weitere grundlegende
Gemeinsamkeit. Peseschkian wie Grawe versuchen in der Sprache des Patienten
und in seinen Bildern und zu sprechen.
Statt den Patienten mit einer komplizierten Metatheorie seiner Erkrankung zu
konfrontieren, werden die vorhandenen Ausdrucksmöglichkeiten und das Weltbild
des Patienten genutzt, um ihm ein verständliches Erklärungsrationale (bei
Peseschkian die Inventarisierung in den vier Dimensionen des Lebens) für seine
Erkrankung zu liefern, Ziele festzulegen und Veränderungen zu erleichtern.
Grawe wie Peseschkian denken
und handeln systemisch. Gesundheit und Krankheit hängen sowohl von
intrapersonalen als auch von interpersonalen Faktoren ab. Der Patient ist mit
seiner individuellen Problematik immer auch eingebettet in ein soziales
Beziehungsgefüge, das als Ressource und als Konfliktpotential wirken kann.
Grawe wie Peseschkian plädieren daher für eine flexible und vielseitige
Gestaltung des Settings (optionale Einzel-, Paar-, Familien- und Gruppentherapie),
so dass die interpersonalen, motivationalen und emotionalen
Störungsattraktoren im Zustand einer optimalen prozessualen Aktivierung
bearbeitet werden können.
Grawe wie Peseschkian denken
und handeln sowohl lerntheoretisch als auch konfliktdynamisch. Der Patient
benötigt einerseits direkte störungsspezifische Hilfe (bei Peseschkian: Stufe
der situativen Ermutigung), andererseits eine Klärung seiner oft unbewussten
interpersonalen motivationalen und Konfliktschemata (bei Peseschkian: Stufe
der Verbalisierung). Den interpersonalen und motivationalen Grundkonflikt,
nach Grawe die Quelle dauerhafter Inkonsistenz, sucht Peseschkian mit Hilfe der
Vorbilddimensionen und der mit diesen verknüpften Konzepten und
Aktualfähigkeiten des Patienten zu identifizieren und zu verändern.
Grawe und Peseschkian sind
beide sehr aufgeschlossen für das reiche Repertoire verschiedenster Techniken
aus unterschiedlichen Schulen (z.B. Psychodrama, Gestalttherapie, Gesprächspsychotherapie,
Hypnotherapie) und integrieren diese pragmatisch in ihr eigenes Therapiekonzept,
ohne deren theoretische Begründungen zu übernehmen. Die psychotherapeutischen
Ausbildungskandidaten müssen folgerichtig Fertigkeiten in einer ganzen Reihe
von Techniken erwerben, um flexibel auf die individuellen Anforderungen des
Patienten reagieren zu können.
Ich will die Darstellung der
Gemeinsamkeiten abschließen mit dem Hinweis auf die ausgeprägte Zukunftsorientierung
beider Autoren. Grawe begreift die aktuellen positiven Intentionen und Ziele
des Patienten als starke Ressource. Er will Volitionen stärken und die mit den
positiven Wünschen und Identitätszielen des Patienten aktuell konkurrierenden
Vermeidungs- und Konfliktschemata aufklären und verändern. Er betont, dass es
dazu keineswegs immer einer Regression in längst vergangene Lebensphasen des
Patienten bedarf. Peseschkians fünfstufiges Behandlungskonzept mündet in der
Zielerweiterung, in der Frage, wofür der Patient die bislang in der Störung
gebunden Energien und Ressourcen zukünftig nutzen will. Die Stufe der Zielerweiterung,
welche die Identitätsziele des Patienten, Sinngebung und Sinnfindung
unmittelbar betrifft, wird bei Peseschkian in der Regel schon nach wenigen
Therapiesitzungen angesprochen und durchzieht als Leitmotiv den ganzen Therapieprozess.
Wenn ich die Gemeinsamkeiten
herausarbeite, sollen auch die Unterschiede zwischen Grawe und Peseschkian
deutlich werden: Insgesamt wirkt Grawes Allgemeine Psychotherapie akademisch-wissenschaftlicher
und operationalisierbarer als das Modell Peseschkians. Sie ist im Ansatz
umfassender, in der Anwendung anspruchsvoller und komplizierter als das
Konzept der Positiven Psychotherapie.
Grawes Ansatz sieht explizit
nicht die Anwendung von Geschichten und Spruchweisheiten vor, die im Modell
Peseschkians eine wichtige und mehrfache Funktion haben und ihm seine
Eigentümlichkeit verleihen.
In Peseschkians Ansatz fehlt
bislang die ausdrückliche Beachtung der von Grawe betonten prozessualen
Aktivierung relevanter implizit-unbewusster intentionaler, emotionaler und interpersonaler
Schemata in vivo, vor allem in der realen Therapiebeziehung (in der dyadischen
Einzeltherapie oder in der Gruppenbehandlung) und der in ihr stattfindenden
nonverbalen und emotionalen Wechselwirkungen zwischen Patient(en) und
Therapeut (Übertragung). Hier bedarf die Positive Psychotherapie meines Erachtens
nach einer theoretischen und methodisch-technischen Ergänzung, die ich mit
meiner Konzeption der expliziten und impliziten Aufträge des Patienten an den
Therapeuten bereits versucht habe[88] und
die durch die Arbeiten Grawes eine schlüssige empirisch-wissenschaftliche Begründung
erhält.
Zusammenfassung und Konsequenzen für die psychotherapeutische Praxis
Nach Grawe sind die wesentlichen Wirkfaktoren von
Psychotherapie:
- Erwartungsinduktion
- Ressourcenaktivierung
- Intentionsrealisierung
- Problemaktualisierung
- Problembewältigung
- motivationale Klärung
- Intentionsveränderung
Grawe appelliert an Psychotherapeuten jeglicher
Couleur, möglichst alle empirisch gesicherten Wirkfaktoren von Psychotherapie
auch wirklich zu nutzen. Vorne an auf Grawes Liste der wirksamen Ingredienzien
von Psychotherapie steht die Ressourcenorientierung, vor allem die
therapeutische Nutzung der positiven Ziele und bereits vorhandenen Fähigkeiten
und Stärken des Patienten sowie die Unterstützung durch sein soziales Umfeld.
Ähnlich wichtig scheint es Grawe zu sein, dass der Patient in der
therapeutischen Beziehung ausreichende positive, korrektive Erfahrungen
hinsichtlich seiner (häufig verletzten) Grundbedürfnisse nach
Unlustvermeidung, Orientierung, Kontrolle, Selbstwerterhöhung und Bindung
machen kann. Eine ausreichende Bedürfnisbefriedigung und Ressourcenorientierung
vom Beginn der Therapie an induzieren und verstärken die überaus wichtigen
Besserungs- und Selbstwirksamkeitserwartungen des Patienten, verbessern sein
Selbstvertrauen, sein Selbstwertgefühl, seine Zuversicht und sein subjektives
Befinden.
Kranke Menschen erwarten von
der Therapie gezielte Maßnahmen zur Lösung ihrer Probleme, zur Linderung oder
Beseitigung ihres Leidensdrucks. Die therapeutischen Interventionen müssen
daher problemspezifisch auf den Störungsattraktor und die ihn aufrechterhaltenden
Kontrollparameter ausgerichtet sein, ggf. mit Hilfe von Therapiemanualen.
Behandlungskonzepte, die eine direkte Hilfestellung zur Bewältigung der
aktuellen Not für den Patienten nicht erkennbar werden lassen, laufen Gefahr,
das Vertrauen in den Therapeuten und in seine Methode und damit die
Besserungserwartungen des Patienten zu untergraben.
Doch auch störungsspezifische
Interventionen alleine greifen laut Grawe zu kurz, wenn eine komplexere
Erkrankung im Sinne der Achse-II-Störung (nach DSM), Komorbidität oder eine
Persönlichkeitsstörung vorliegen. In solchen Fällen ist mit hoher
Wahrscheinlichkeit eine grundlegend erhöhte Inkonsistenzspannung infolge
unbewusster motivationaler Konflikte vorhanden. Eine bewusstseinsfördernde
motivationale Klärung der für die Inkonsistenz verantwortlichen intentionalen,
emotionalen, interpersonalen und Vermeidungsschemata kann eine nachhaltige
Reduktion der Inkonsistenzspannung und eine Beseitigung der Symptomatik eher
erreichen, als nur implizite korrektive Erfahrungen ohne Einsicht des Patienten.
Grawe fordert eine auf jeden
Patienten maßgeschneiderte Therapie, der ein eingehender Abklärungsprozess
mit Indikationsbogen und Therapieplanungsbogen vorangehen soll. Der Abklärungsprozess
legt fest, für welche Störungen eine Behandlungsindikation besteht, auf welche
Ressourcen des Patienten der Therapeut zurückgreifen kann, welche relevanten
Komponenten und Kontrollparameter der Störung mit welchen Interventionen in
welchen Setting zu behandeln sind.
Das Ziel der Therapie ist,
motivationale, emotionale und interpersonale Schemata sowie Störungsattraktoren
(die in Form von spezifischen Erregungsbereitschaften vernetzter Gruppen von
Neuronen codiert sind) durch neue, besser angepasste, d.h. besser die Bedürfnisse
des Patienten befriedigende, weniger konflikthafte, weniger vermeidende und
weniger Inkonsistenz hervorbringende Erregungsmuster zu überschreiben. Dazu
müssen die problematischen Schemata und Erregungsmuster in vivo prozessual
aktiviert werden, sei es durch die verhaltenstherapeutische Reizexposition,
durch die Konfrontation mit der Dynamik interpersonaler emotionaler und
kognitiver Prozesse in der Therapiegruppe, in der Familien- oder Paartherapie,
bei Rollenspielen oder beim Psychodrama, beim Stellen von
Familienkonstellationen oder bei der Übertragungsdynamik der dyadischen Beziehung
in der Einzeltherapie. Die Veränderung der problematischen Schemata und
Attraktoren erfolgt durch verschiedene Lern- und Umstrukturierungsprozesse.
Grawe ist gegenwarts- und
zukunftsorientiert: Die Veränderung des Patienten (und seiner Erregungsmuster)
vollzieht sich unter der Wirkung der heutigen Ziele des Patienten, innerhalb
der lebendigen Realität der aktuellen interpersonalen Beziehungen und Kontrollparameter.
Vergangenheitsorientierte Kausalbetrachtungen spielen im Konzept Grawes eine
eher untergeordnete Rolle.
Die Lektüre des Buches
„Psychologische Therapie“ von Klaus Grawe war für mich persönlich die größte
Bereicherung meines psychotherapeutischen Wissens in den letzten Jahren. Ich
hoffe, dass es eine breite Rezeption findet. Für die Dozenten und
Ausbildungskandidaten der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie sollte das
Buch m.E. zur Pflichtlektüre werden.
[1] Erschienen 1998 in der zweiten Auflage im Hogrefe-Verlag,
Göttingen
[2] Psychotherapie im Wandel – Von der Konfession zur
Profession (Grawe, Donati, Bernauer, 1994), Hogrefe
[3] Grawe bezieht sich v.a. auf William Powers Bücher “The Control of
Perception” (1973) und “Living Control Systems” (1989, 1992).
[4] Man nimmt in der Medikamentenforschung schon
lange an, dass der Glaube des Patienten an die Wirksamkeit des Mittels ein
wesentlicher Teil der Effekte ist (Shapiro, 1971; Shapiro und Morris, 1978).
Als Rosenthal-Effekt (Rosenthal,1969; Rosenthal und Rubin, 1978: interpersonal
expectancy effect) wird die Wirkung der Erwartung des Versuchsleiters auf
Versuchsergebnis, die Wirkung der Erwartung des Lehrers auf die Leistung des
Schülers oder die Wirkung der Erwartung des Therapeuten auf den Erfolg des
Patienten bezeichnet. Die Erwartunginduktion ist das zentrale Wirkprinzip von
Hypnose (Kirsch, 1990; Grawe, Donati, Bernhauer, 1994) und ein wichtiger
Wirkfaktor von Psychotherapie überhaupt.
[5] Howard et al. 1992, bestätigt durch Bieri 1996
[6] Frank 1961, 1971, 1973, 1982 und Howard,
Kopta, Krause, Orlinsky, 1986, Fish, 1973, bestätigt durch Orlinsky, Grawe und
Parks, 1994 und Schulte, 1996. Bei der von Fish vorgeschlagenen Placebotherapie
macht sich der Therapeut ein Bild von den Überzeugungen und Ansichten des
Patienten, macht einen Behandlungsvertrag mit Festlegung der Therapieziele und
vollzieht ein Behandlungsritual, das allein danach gewählt wird, ob es den
Patienten überzeugen kann, dass es ihm helfen wird.
Kirsch
(1990) verglich die Systematische Desensibilisierung mit
Placebo-Kontrollbedingungen, die bei den Placebo-Patienten glaubhafte Hoffnung
auf Besserung weckten. Die Placebogruppe zeigte gleich gute Ergebnisse wie die
Verumgruppe, was die Vermutung nahe legt, dass die Desensibilisierung wahrscheinlich
eine Placebotherapie ist.
[7] Die Expositionstherapie wirkt z.B. bei
Agoraphobie über die Habituation an die angstauslösende Situation, jedoch nicht
allein. Southworth und Kirsch (1988) zeigten, dass die Exposition mit einer positiven
Erwartung verbunden sein muss, sonst bewirkt sie keine Angstabnahme. Kirsch
hatte schon 1986 gezeigt, dass positive Selbstwirksamkeitserwartungen und die
Erwartung einer negativ erlebten unwillkürlichen, physiologischen oder
emotionalen Reaktionen (response expectation) mit -0,89 sehr stark korrelieren.
Daher ist es, um das Vermeidungsverhalten des Angst-Patienten abzubauen,
wichtig, seine Selbstwirksamkeitserwartungen zu verbessern u n d
seine Angsterwartung durch das Ersetzen katastrophierender Kognitionen
durch realitätsgerechtere zu reduzieren.
[8] Die Theorie der Selbstwirksamkeit (self efficacy
expectation) geht auf Albert Bandura (1977) zurück.
[9] Z.B. ist ein gutes Therapieergebnis wahrscheinlicher,
wenn sich ein Patient für seine Veränderung selbst verantwortlich fühlt
(Orlinsky, Grawe und Parks, 1994).
[10] In der Emotionstheorie von Lazarus (1991) heißt
die persönliche positive Bedeutung, der Wert eines gewünschten Zustandes
„primary appraisal“. Dem steht als „secondary appraisal“ die Einschätzung des
Patienten gegenüber, wie gut der Patient glaubt, mit der angstauslösenden
Situation und seinen Angstgefühlen umgehen zu können.
[11] In seinem Buch „Psychotherapie im Wandel“
schreibt Grawe (Seite 8), dass sich der heutige Mensch in ein ökologisches Netz
sich wechselseitig beeinflussender Faktoren eingebettet sieht. Der Mensch ist
Produkt und Produzent seiner Lebensbedingungen, Beeinflusster und
Beeinflussender zugleich. Diese Sichtweise nennt Grawe interaktionell,
ökologisch, zirkulär, reziprok oder systemisch. Sie löst die unikausale und
unidirektionale Sichtweise ab, die Individuum und Umgebung voneinander abtrennt
und u.a. dem psychodynamischen und verhaltenstheoretischen Denken zugrunde
liegt.
[12] Hebb 1949, 1958
[13] Crick und Koch 1990
[14] Birbauer und Schmidt 1996
[15] Bei dieser sich selbst verstärkenden Rückkoppelung
neuronaler Verbindungen und Erregungsmuster spricht man auch von reentrant
mapping und Bahnung infolge veränderter synaptischer Gewichte (Edelman 1987,
1989, 1995)
[16] Schema ist ein zentraler Begriff in der Entwicklungspsychologie
Piagets. Verhaltensschemata und v.a. kognitive Schemata entwickeln sich aus der
Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt heraus. Unter Akkomodation versteht
Piaget das Entstehen neuer Schemata (neuronal gesehen das Anlegen neuer Bahnen),
die eine bessere Anpassung des Kindes an die Anforderungen der Umwelt
ermöglichen. Mit Assimilation wird hingegen die Verarbeitung von Umweltreizen
im Sinne bereits bestehender Schemata (und die graduelle Veränderung ihrer
neuronalen Bahnungen) bezeichnet.
Ein emotionales
Schema ist nach Grenberg, Rice und Eliott (1993) eine unbewusste, bedürfnis-,
ziel- und handlungsorientierte funktionale Einheit, die eine flexible, aber
planvolle Interaktion mit der Information aus der Umwelt ermöglicht. Ein Schema
strukturiert die Wahrnehmung, die Erfahrung und Antwort auf die Welt. Es
verändert sich durch Akkomodation an neue Erfahrungen.
[17] Thelen und Smith 1995, Tschacher 1997
[18] Nach Powers (1973, 1989, 1992) Kontrolltheorie
ist Verhalten ein Mittel, um den sensorischen Input in Richtung erwünschter
Wahrnehmungen zu kontrollieren. Das Verhalten ist nach Powers nicht – wie man
üblicherweise annehmen könnte – darauf ausgerichtet, einen bestimmten, objektiv
zu definierenden Umgebungszustand zu erzeugen, sondern darauf, eine subjektive
Wahrnehmung ganz bestimmter Qualität herzustellen. Die Wahrnehmungserwartung
wird von höheren Regulationsebenen eines sich selbst organisierenden Systems
den niederen Ebenen als Sollwert vorgegeben wird. Bei Abweichung des sensorisch
wahrgenommenen Ist-Signals vom Sollwert werden auf der jeweiligen Ebene
Verhaltensbereitschaften aktiviert, die aufgrund biologisch festgelegter Programme
oder lebensgeschichtlicher Erfahrung geeignet erscheinen, die Inkongruenz zu
verringern.
[19] Z.B. bei Bulimie wirkt das Schlankheitsideal als
kultureller Kontrollparameter, eine fehlende positive Vaterbeziehung, ein
geringes Selbstwertgefühl, externale Kontrollerwartung und hoher Neurotizismus
als individuelle Kontrollparameter. Der Störungsattraktor Hyperphagie stellt
ein neues Erregungsmuster dar, das eine erhöhte Inkonsistenzspannung reduzieren
vermag und sich durch differentielle Verstärkung und positive Rückkoppelung
verfestigt.
[20] Die kognitiv-motivational-relationale Theorie
der Emotionen von Lazarus (1991) sieht einen engen Bezug zwischen Emotionen und
aktivierten Zielen. Ziele sind erwünschte Beziehungen zur (sozialen) Umgebung. Eine
Emotion entspricht folglich einem transaktionalen Bezug. Starke Emotionen
weisen auf wichtige Bedürfnisse hin. Bei einer Differenzierung der relationalen
Ziele differenzieren sich auch die Emotionen. Nach Izard (1978) beeinflussen
sich Emotionen und Kognitionen wechselseitig in der Entwicklung besser
angepasster Schemata zur Bewertung der Individuum-Umgebung-Beziehung.
Thelen
und Smith sehen mit Bowlby die Entwicklung der Schemata unter dem Hauptmotiv
(übergeordneten Attraktor) der überlebenswichtigen Bindung, d.h. Nähe zur
Mutter zwecks Schutz und Komfort.
[21] Allport 1937
[22] Unter Emergenz ist – im Gegensatz zu einer
linearen Kausalkette – das Phänomen zu verstehen, dass sich in einem System
höhere Ordnungsmuster herausbilden, die aus den Ausgangseigenschaften prospektiv
nicht voraussagbar gewesen wären, die sich aber retrospektiv aus den
Ausgangseigenschaften durch positive und negative Rückkoppelung erklären
lassen.
[23] In seinem Buch „Psychotherapie im Wandel“
schreibt Grawe (Seite 749), dass Therapieverfahren mit einer besonders guten
Wirksamkeit gemeinsam haben, dass sie direkte Hilfe bei der Bewältigung des
drückenden Problems leisten, und zwar mit Maßnahmen, die auf dieses Problem
zugeschnitten sind (z.B. Selbstsicherheitstraining für Patienten mit sozialen
Hemmungen oder Wiederaufbau von Verhaltensaktivität bei Depressiven).
Grawe begreift eine
Störung als ein emergentes Phänomen mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, welches
störungsspezifische Maßnahmen erfordert. Störungsspezifische Manuale haben den
Vorteil, dass sie viel empirisch gewonnenes, überindividuell gültiges Wissen
über die Kontrollparameter der Störung und die Einflussmöglichkeiten enthalten
(Reinecker 1994, Margraf 1996, Schulte 1996). Z.B. bei Anorexie ist es
essentiell, die auf die Nahrungsaufnahme bezogene Kontrollparameter zu
behandeln (Herzog, Hartmann und Falk, 1996). Erst nach Anwendung von verhaltenstherapeutischen
Vorgehensweisen, die das Essverhalten direkt beeinflussen, stieg die
Erfolgsrate (bezogen auf eine befriedigende Gewichtszunahme) einer zunächst nur
pschodynamischen Therapie von 25% auf 70% an. Anders bei Bulimie:
Kognitiv-behaviorale und interpersonale Therapie wirken auf das Essverhalten
gleich gut. Bei Bulimie ist es offensichtlich nicht zwingend notwendig, das
Essverhalten gezielt zu verändern. Es gibt offensichtlich noch andere
Kontrollparameter, über die Einfluss auf das Essverhalten ausgeübt werden kann.
[24] Nach Grawe muss man das Verfahren, dass sich für
einen bestimmten Zweck als wirksam erwiesen hat, von seiner theoretischen
Begründung abtrennen. Denn es wirkt ja das Verfahren, nicht seine Begründung.
[25] Drei von vier Patienten mit Agoraphobie profitieren
von der Expositionstherapie, die offensichtlich entscheidend auf die
Kontrollparameter dieses Störungsattraktors, nämlich auf Vermeidungsverhalten
und Erwartung destabiliserend einwirkt. Jedoch muss vorher der Kontrollmodus
des Patienten in Richtung Handlungsorientierung verändert werden, wenn er noch
nicht handlungsorientiert ist. Der Kontrollmodus hat seine eigenen
Kontrollparameter und Komponenten, die man kennen muss.
[26] Grawe unterscheidet externe Konsistenz (Außenanpassung)
= Kongruenz und interne Konsistenz (Binnenregulation) = Konkordanz.
[27]
Grawes These: Psychische
Ordnungsmuster haben in der Ontogenese einen Selektionsvorteil, wenn sie die
Inkonsistenzspannung reduzieren. Eine Selektion setzt das neuronale Muster
motivationaler Schemata (oder Attraktoren) und das der Fähigkeiten, also
ebenfalls in der ontogenetischen Entwicklung gebahnter Erregungsbereitschaften,
voraus.
[28] Attraktoren haben im psychischen Geschehen die
Funktion, Bedürfnisspannung oder Inkonsistenz abzubauen.
[29] Grawe: Intentionalität ist die vielleicht
wichtigste Grundqualität des psychischen Geschehens überhaupt.
[30]Kennzeichnend für ein Konfliktschema ist, dass die
intentionale Komponente (z.B. Unabhängigkeit) automatisch die
Vermeidungskomponente (Schuldgefühle, "lass uns nicht allein")
aktiviert. Aufgrund der chronisch nicht befriedigten Bedürfnisse treten negative
Emotionen (z.B. Wut auf die Eltern) auf, welche die Intentionskomponente noch
stärker hervortreten lassen. Psychotherapiepatienten werden hoch signifikant
stärker von Vermeidungszielen bestimmt als Normale. Aber auch die intentionalen
Ziele sind stärker aktualisiert. Grawe spricht von einer neuronalen
Erregungsschaukel. Der innere Konflikt geht mit einem unbewusst inkonsistenten
Kommunikationsverhalten einher (z.B. verbale Nähewünsche und nonverbale
Vermeidungssignale, oder ein Teil des nonverbalen Verhaltens zeigt Nähewunsch,
ein anderer Teil zeigt Vermeidung.
[31] Das Ausführungsorgan der Bedürfnisse sind die intentionalen
Schemata, die auch der Umgebung Rechnung tragen. Solche Schemata können sich
nicht entwickeln, wenn die Versuche des Kindes, durch sein Verhalten
bedürfnisbefriedigende Reaktionen zu bewirken, vergeblich sind. Stattdessen
entwickeln sich Vermeidungsschemata hinsichtlich der mit der Frustration verbundenen
negativen Emotionen. Es sieht so aus, als sei das Verhalten aktiv auf einen
Sollzustand ausgerichtet, der mit dem Grundbedürfnis, z.B. nach
Selbstwerterhöhung, unvereinbar ist. Der Gewinn liegt in der Befriedigung
anderer Bedürfnisse wie Vermeidung von Schmerz, Erhaltung von Bindung,
Kontrolle und Konsistenz. Für diese Ziele wird sogar ein negatives Selbstbild
aufrecht erhalten.
[32] Nach Powers (1973) ist das, was wir wahrnehmen,
wesentlich dadurch bestimmt, was wir selbst an die Umgebung herantragen. Die
ganze psychische Aktivität ist darauf ausgerichtet, Wahrnehmungen im Sinne
bestimmter Ziele zu machen oder eben nicht zu machen.
[33] Im NLP würde man von „Ankern“ sprechen.
[34] Im Begriff der Übertragung lässt sich die enge
Verquickung von intrapsychischen und interpersonalen Geschehen besonders
deutlich machen: frühe Bindungsbedürfnisse und die Reaktion der Umwelt auf
diese bahnt bestimmte neuronale Erregungsbereitschaften, welche später in der
Therapiebeziehung im implizit-unbewussten Funktionsmodus aktiviert werden.
[35] Unbewusste Schemata passieren nicht den Inkonsistenzfilter,
sind nicht mit den im Bewusstsein befindlichen Schemata vereinbar.
[36] Auch bei der kognitiven Therapie nach Ellis
(1962) und Beck (1976) geht es um die Veränderung von konflikthaften
Intentionen. Der Therapeut nimmt eine motivationale Klärung vor, indem
irrationale Leitsätze und dysfunctional beliefs infrage gestellt werden.
Kognitive Therapien sind auf eine kurze Therapiedauer angelegt. Sie arbeiten
strukturiert an den Befürchtungen und Glaubenssätzen, die dem Patienten bewusst
sind. Der Therapeut arbeitet direktiv darauf hin, dass der Patient seine
Kognitionen Realitätstests unterzieht und bereitet ihn darauf mit der
Erarbeitung alternativer, positiverer Kognitionen vor.
[37] Orlinsky, Grawe
und Parks (1994) fanden in einer
Metaanalyse von Prozess-Outcome-Zusammenhängen die experiential
confrontation als eine der wirksamsten Interventionen in der Psychotherapie.
Der Therapeut konfrontiert den Patienten mit seinem gerade
stattfindenden Erleben und Verhalten. Er macht das, was in der
Therapiebeziehung prozessual passiert zum Inhalt.
[38] bei Peseschkian Plus- und Minus-Aspekte der Erkrankung
und Lebensorganisation des Patienten
[39] Grawe spricht von Schemadynamik statt von Psychodynamik
[40] Dreikomponentenmodell der
Wirkungsweise von PT: Ressourcenaktivierende,
bewusstseinschaffende und bewältigungsorientierte Interventionen führen zu
bedürfnisbefriedigenden Erfahrungen, guter Beziehung, verbessertes
Wohlbefinden, aktiver Mitarbeit, zu eigenen Problembewältigungsversuchen,
korrektiven Erfahrungen, zur Veränderung störungsspezifischer
Kontrollparameter, zu Bewusstsein für problemrelevante Zusammenhänge, zur
Destabilisierung des Störungsattraktors, Symtomreduktion, Veränderung
motivationaler Kontrollparameter und intentionaler und vermeidender
Komponenten.
[41] entspricht ziemlich genau
Antonowskys „sense of coherence“
[42] Greenberg (1993): “Emotion emerges as a function of appraisal of
macht/mismatch between situations and need, goals or concerns, and our
appraisal of our ability to cope with the situation.” Im emotionalen Schema ist die erlebte Situation,
der Stimulus, die Bewertung hinsichtlich des Bedürfnisses, die affektive
Antwort auf die bewertete Situation und die Attribuierung über das Selbst in der
Situation repräsentiert. Die motivationalen Schemata können sich als
intentionale (direkt auf Bedürfnisbefriedigung gerichtete) Schemata, als
Konfliktschemata (wenn mehrere Intentionen im Widerstreit geraten sind) und als
Vermeidungsschemata (wenn der Schutz vor Konsistenzgefährdung im Vordergrund
steht) manifestieren.
[43] Epstein (1989) nennt die implizite Verarbeitungsweise
auch „experiential“.
[44] In „Psychotherapie im Wandel“ schreibt Grawe,
dass die funktionale Bedeutung der Therapiebeziehung für den Therapieerfolg
durch mehrere hundert signifikante Zusammenhänge bestätigt ist und als das am
besten gesicherte Ergebnis der gesamten bisherigen Psychotherapieforschung
angesehen werden kann.
[45] Das innere Arbeitsmodell (entspricht Grawes Beziehungsschemata
und Horowitz Role Relationship Models) ist zwar grundsätzlich veränderbar,
tendiert aber dazu, sich durch die in seinem Sinne gemachten selektiven
Erfahrungen zu stabilisieren (Schmidt und Strauss, 1996).
[46] Collins und Read (1990) untersuchten den Zusammenhang
von Bindungsmustern und Beziehungsqualität hinsichtlich der Dimensionen Nähe,
Angst und Vertrauen. Es erwies sich für die Beziehungsqualität als besonders
wichtig, dass die untersuchten Personen Nähe zulassen konnten und wenig Angst
vor dem Verlassenwerden hatten. Collins und Read unterschieden drei Typen: 1.
sicher = wenig Angst, viel Nähe; 2. ängstlich vermeidend: wenig Nähe, viel
Angst (Aktivität dient nur noch dem Schutz vor Verletzung, entspricht Grawes
negativen emotionalen Schema); 3. ambivalent: viel Nähe, viel Angst.
[47] Cole und Kobak (1991): Depressive Störungen sind
gehäuft bei unsicher ambivalenten, Esstörungen gehäuft bei unsicher
vermeidenden Bindungsmustern.
[48] Wenn starke Emotionen ausgelöst werden, bedeutet
das nach der Emotionstheorie von Lazarus (1991), dass die Zielkomponente des
betreffenden Schemas stark aktiviert wurde. Orlinsky, Grawe und Parks (1992)
konnten zeigen, dass erfolgreiche Therapien sich durch eine stärkere emotionale
Beteiligung der Patienten auszeichnen.
[49] Die gute Wirkung
von Exposition bei Agoraphobie führt Grawe unter anderem darauf
zurück, dass der Patient eine korrektive, weil gegenteilige Beziehungserfahrung
zu dem macht, was er als Kind erlebt hat (Einschränkung von Autonomie,
Darstellung der Umwelt als bedrohlich, Bedrohung, allein gelassen zu werden).
Der Patient erhält, ohne dass der Verhaltenstherapeut das bewusst
intendiert, emotionalen Schutz. Er wird ermutigt und unterstützt, die Umwelt zu
erkunden. Die eindeutigen (ohne Ambivalenz) korrektiven Beziehungserfahrungen
machen den Weg frei für eindeutige Intentionen des Patienten und die
Realisierung seiner positiven Intentionen.
[50] Der Bindungsstil ist ein intrapsychischer,
implizit potentialer Zustandsaspekt, der als constraint und Kontrollparameter
für Störungsattraktoren wirkt.
[51] Beziehungsmuster sind interpersonale Attraktoren
mit einer Eigendynamik, in die motivationale, potentiale und vergangene sowie
aktuelle situative Umweltbedingungen als Kontrollparameter eingehen.
[52] Dass eine Symptomatik eine intra- und interpersonelle
Funktion hat, wurde von Hand (1992) an einem Beispiel belegt: Zwanghaftes
Waschen reduziert die Angst, sich zu beschmutzen, aber auch negative Emotionen
wie Wut, Hilflosigkeit, Erniedrigung, Ausgeliefertsein etc. Den Zwang interpretiert
Hand als Ausdruck eines negativen emotionalen Schemas mit dem Ziel, vor
aversiven Emotionen zu schützen und ein Mindestmaß an Kontrolle zu
gewährleisten. Man kann Zwang auch als Störungsattraktor ansehen, der sich
unter bestimmten motivationalen Bedingungen (Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung
konnte nicht mit kongruenten Wahrnehmungen befriedigt werden mit der Folge von
Inkonsistenz) entwickelt hat, aber eine Eigendynamik (Auslösung der
vorgebahnten Erregungsbereitschaften durch Situationen, die nichts mit den
ursprünglichen Erlebnissen zu tun haben) entwickelt hat. Durch die Eigendynamik
der Zwangsstörung verringert sich vorerst die Inkonsistenzspannung.
[53] Der Begriff der komplementären Interaktion
geht auf Gregory Bateson zurück und bezeichnet ein Verhalten, welches das
Verhalten einer anderen Person ergänzt und von diesem Verhalten grundlegend verschieden
ist. Wenn sich z.B. ein Interaktionspartner dominant verhält und ein zweiter
darauf mit Unterwerfung reagiert, handelt sich um ein komplementäres Beziehungsverhalten.
Das inferioreVerhalten des einen verstärkt wiederum das superiore Verhalten des
anderen. Die ursprünglichste Form der komplementären Beziehung ist die zwischen
Mutter und Kind.
Bateson
nennt eine Interaktion als symmetrisch, wenn ein Interaktionspartner durch das
Verhalten eines anderen zu einem ähnlichen Verhalten provoziert wird. Das Ziel
der Interaktion ist Gleichheit. Als Beispiel für die symmetrische Interaktion
können Freundschaften unter Gleichaltrigen und Gleichgeschlechtlichen gelten, in
denen ausgewogenes Geben und Nehmen sowie Rivalität kennzeichnend sind.
[54] Über verschiedene nonverbale Kommunikationskanäle:
Mimik, Gestik, Stimmqualität, Sprechweise, Atmung, Haltung und Bewegung von
Oberkörper, Unterkörper.
[55] Tucker, 1986: Die linke Hemisphäre arbeitet
schwerpunktmäßig digital, d.h. mit einem linguistischen Code, der an die Stelle
des sensorisch Erlebten tritt. Dieses Informationsformat hat den Vorteil, das
es von einem Gedächtnisbereich zum nächsten, von einem Gehirn zum anderen nach
festen und wiederholbaren Regeln weitergegeben und weiterverarbeitet werden
kann.
[56]
Die überwiegend
rechtshemisphärische analoge Informationsverarbeitung hat keinen
substituierenden Code, sondern speichert die äußeren und inneren Sinnesqualitäten
direkt, konkret ab. Als kontinuierliches Spiegelbild der inneren Verfassung des
Senders löst sie im Empfänger unmittelbar korrespondierende affektive
Reaktionen aus, während der verbalen Repräsentation eine inhärente Distanz
zwischen der Semantik und der affektiven Antwort des Empfängers eigen ist. Auch
das Enkodieren von emotionalem Ausdruck geschieht vor allem
rechtshemisphärisch. Emotionen werden mit der linken Gesichtshälfte stärker
ausgedrückt. Jedoch gibt es keine strenge Trennung zwischen rechts und links.
[57] Nonverbale
Kommunikationsforscher wie Kagan definierten 1971 Empathie als the ability to
receive, detect and decode affective information of another.
[58] Fähigkeit, ein bestimmtes Gefühl eindeutig ausdrücken
können
[59] von Grawe dazu zitierte Autoren: Shevrin und
Dickman, 1980; Marcel, 1983; Perrig, Wippich und Perrig-Chielo, 1993
[60] Roth (1995): Während unsere Sinnesorgane
vieles ausblenden, was in der Außenwelt passiert, enthält unsere
Wahrnehmungswelt sehr vieles, was keinerlei Entsprechung in der Außenwelt hat. Insbesondere
gehören hierzu alle Kategorien und Begriffe, mit denen wir die Welt ordnen,
alles Bedeutungshafte in unserer Wahrnehmung (die Ereignisse in unserer Umwelt
sind an sich bedeutungslos), Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Ich-Identität,
Vorstellungen, Denken und Sprache. Wir wenden diese hochkomplexen Konstrukte
auf die Welt an, sie sind ihr aber nicht entnommen.
[61] Konsistenz ist ein kontinuierlich aktiv hergestelltes
Merkmal unseres Bewusstseins, und zwar simultane Konsistenz und Kohärenz über
die Zeit. Selbst bei Unterbrechung der Hirnaktivität, z.B. bei Apnoe oder
kleinen epileptischen Anfällen, besteht subjektiv kein Bewusstsein für diese
Filmrisse, weil das Gehirn künstlich eine Kontinuität des Bewusstseinsstroms
herstellt.
[62] Roth (1995) setzt Bewusstsein generell mit dem
Anlegen neuer neuronaler Verbindungen in Beziehung. Durch Synchronisation
werden Erregungsmuster zusammengebunden und führen zur Konstruktion einer
Gesamtwahrnehmung (man könnte auch „Gestalt“ sagen), die dem aktuell auslösenden
Sinnesreiz vieles hinzufügt, was in der Außenwelt keine Entsprechung hat. Z.B.
sind relativ wenige Gesichter-Neurone (im unteren Temporal-lappen) nötig, um
ein Gesicht eindeutig zu erkennen. Der Prozess der Wahrnehmungskonstruktion ist
unbewusst, nur das Ergebnis ist bewusst.
[63] Powers nennt das die Programmebene.
[64] Ein mögliches Mittel des Systems, Inkongruenz von
Ist- und Sollwerten zu vermeiden, ist ein aktives Vermeiden von konflikthaften
Wahrnehmungen und auch eine Verhinderung des Bewusstwerdens dieser Vermeidung.
Grawe erkennt ausdrücklich auch die Existenz von psychischen
Verdrängungsphänomenen an, wenn ein starkes neuronales Erregungsmuster aktiv
und unter Energieaufwand vom Bewusstsein ferngehalten wird. Verdrängung ist vor
allem zur Verminderung der Inkonsistenzspannung notwendig. Phänomene wie
Widerstand, Verleugnung und Verdrängung sind aus der Funktionsweise des sich
selbst organisierenden psychischen Systems zu verstehen, ohne dass man
Instanzen wie das Ich, Über-Ich und Es oder eine eigenständige Entität „des
Unbewussten“ konstruieren muss.
[65] Unbewusste Wünsche und Befürchtungen nennt Grawe
Annäherungs- und Vermeidungsintentionen. Sie wirken als motivationale
Attraktoren im impliziten Funktionsmodus. Der implizite Funktionsmodus lässt im
Gegensatz zum bewussten Funktionsmodus ein gewisses Maß an parallel ablaufenden
Prozessen zu, auch wenn sie widersprüchlich und inkonsistent sind.
[66] Lern- und Bewusstseinsprozesse werden allerdings
vom Inkonsistenzfilter blockiert, wenn sie die Inkonsistenzspannung im System
zu erhöhen drohen.
[67] Diese sechs Emotionen bezeichnet man als primäre
Emotionen. Sie sollen ihre Grundlage in mammalischen Strukturen haben (MacLean,
1970).
[68] Unter Priming versteht man das rasche Wiedererkennen
komplex strukturierter Sinneswahrnehmungen (von Mustern, z.B. Wörter oder
Bilder) unabhängig von der bewussten Verarbeitung (ist auch bei amnestischen
Patienten unbeeinträchtigt). Priming hat eine viel größere simultane
Verarbeitungskapazität als konzeptuelles Lernen und ist weniger störanfällig,
dafür sehr modalitätsspezifisch, d.h. jeweils nur auf ein Sinnesorgan bezogen.
[69] Die Konditionierung verbindet vorher
bestehende unverbundene Erregungsmuster raum-zeitlich. Es bilden sich neue
Assoziationen zwischen vorher unabhängigen Reizen und zwischen
Reaktionen und ihren Konsequenzen durch zeitliche Kontingenz heraus. Die
neuronalen Bereitschaften als Ergebnisse der Konditionierung können (müssen
aber nicht) als Fühlen oder Spüren ins Bewusstsein treten (Perrig 1993).
Konditionierung ist nie der alleinige Lernmechanismus. Ob es zu und zu welchen
Konditionierungen es kommt, hängt von vielen Variablen ab, u.a. vom Zusammenspiel
mit höheren Lernformen.
[70]
Hatfield,
Cacioppo und Rapson (1992)
beschreiben eine „emotionale Ansteckung“ zwischen Mutter und Säugling. Säuglinge tendieren
dazu, die Bewegungen, Ausdrücke, Haltungen und Stimmgebung der Mutter
nachzuahmen, sie zu synchronisieren und emotional zu verschmelzen. Befindet sich die Mutter häufig in einem bestimmten emotionalen
Zustand, entwickelt auch das Kind eine erhöhte Bereitschaft für diesen
emotionalen Zustand. Malatesta (1990) fand
heraus, dass der Ausdruck von Freude und
Interesse von Kindern von 7-8 Monaten stark mit der von der Mutter im Alter von 2-3 Monaten mit dem
Kind ausgetauschten Freude und ihrem Interesse zusammenhing. Offensichtlich speichern Kinder schon sehr
früh in ihrem impliziten Langzeitgedächtnis
emotionale Schemata, die Malatesta und Tomkins (1991) „emotionale
Lebensdrehbücher“ nennen.
Goschke (1996)
nimmt an, dass das Gedächtnis für die emotionale Bedeutung von Ereignissen in
der Amygdala gespeichert wird und das Gedächtnis für die Ereignisse selbst im
Hippocampus und Neokortex.
[71] Das episodische Gedächtnis hat nicht nur eine retrospektive,
sondern auch eine prospektive Perspektive: Es gewährleistet auch das Behalten
von Plänen und Absichten. Biographie und Lebenspläne sind ein wesentlicher
Bestandteil des bewussten Selbstkonzeptes, der Identität oder Persönlichkeit eines Menschen.
Grawe betont, dass
lebensgeschichtliche Erinnerungen eine spezielle Form von Kognitionen und das Ergebnis
einer dreifachen Transformation sind: Sie geben zum einen die mitunter sehr
alte subjektive Interpretation des Erlebten durch das Individuum wieder. Sie
haben zudem eine Selbstdarstellungsfunktion gegenüber dem Therapeuten (auch in
dem Sinne, was der Therapeut gerne hört). Schließlich ist die lebensgeschichtliche
Erinnerung eine durch den gegenwärtigen Kontext (aktuelle Ziele, der aktuelle
emotionale Zustand) beeinflusste Rekonstruktion und mehr oder weniger starke
Verzerrung des Vergangenen.
[72] Die Hauptbedeutung heißt Denotation, die mitunter
unbewusste Nebenbedeutung heißt Konnotation.
[73] Nach Edelmann (1987, 1989, 1995) werden solche
Verbindungen durch reentrant mapping verstärkt, die eine aktuelle biologische
Bedürfnisspannung (und nach Grawe auch Inkonsistenz) wirksam reduzieren.
[74] Festinger 1957
[75] Wiederkehrende posttraumatische Angstträume erklären
sich Catlin und Epstein (1992) nicht wie Freud aufgrund eines Todestriebes,
sondern als andauerndes Bemühen und Scheitern, die Erfahrungen mit der Realität
an die eigenen impliziten Schemata einer einigermaßen guten, sicheren und
kontrollierbaren Welt zu assimilieren.
[76] Mit der Vermeidung ist das
Problem jedoch nicht gelöst, weil gleichzeitig mit dem Vermeidungsschema das
intentionale Schema stark aktiviert wird. Das führt zu hoher Bedürfnis- und
Inkonsistenzspannung.
[77] Henry et al. (1994) zeigten, dass Therapeuten,
die Patienten zu einer bestimmten Einsicht verhelfen wollen, diesen überfordern
und ihn gerade deshalb weniger Kontrolle erleben lassen.
[78] Entspricht Antonowskys
comprehensibility und managebility
[79] Eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung
hat bei Patienten mit Somatisierungsstörungen eine Effektstärke von gerade
einmal 0.40 (Kontrollgruppe 0.36). Vermutlich liegt ein hohes
Inkonsistenzniveau aufgrund einer individuellen Konstellation motivationaler
Schemata vor (Rief und Hiller, 1998). Ein direktives klärungsorientiertes
gesprächstherapeutisches Vorgehen bei Colitis ulcerosa brachte eine Effektstärke
von 1.3 (Sachse, 1997).
[80] Der Therapeut nimmt eine
Fremdbeurteilung hinsichtlich der wichtigsten Ziele des Patienten vor. Weicht
seine Einschätzung von der Selbstbeurteilung des Patienten ab, verweist diese
Diskrepanz auf unbewusste Ziele. Zu jedem intentionalen Schema muss der
Therapeut die Komponenten Ziel, Handlung, Kognitionen, Emotionen und eine
exemplarische aktivierende Situation benennen.
[81] Für ein Konfliktschema sind die Ziel- und
Wunschkomponente, Kognitionen, Emotionen, Vermeidungsstrategien/verhalten,
Annäherungsverhalten, Situation, Entstehungsbedingungen zu elaborieren. Mit
einer Konsistenzanalyse schätzen Patient und Therapeut getrennt das Ausmaß, mit
dem es dem Patienten gelingt, die Zielkomponenten der herausgearbeiteten
Schemata zu realisieren. Auch hier werden wieder Unterschiede der Beurteilung
genutzt, um das Inkongruenzniveau und die Inkongruenzquellen zu identifizieren.
Ein Computerprogramm berechnet einen Inkonsistenzindex aus der Unvereinbarkeit
der Zielkomponenten der individuell wichtigsten Schemata. Das Programm benennt
die Schemata, die am meisten zur Diskordanz beitragen und mit motivationsverändernden
Maßnahmen bearbeitet werden sollten.
[82] Auf Grawe wirken die psychoanalytischen Annahmen
wie „ein Streifzug durch einen Supermarkt menschlicher Motive“. Aussagen über
psychodynamische Zusammenhänge ließen den Präzisionsgrad vermissen, wie er für
echten wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt erforderlich sei. Grawe sieht
aber in der OPD (Operationalisierte psychodynamische Diagnostik) einen Schritt
in die richtige Richtung.
[83] Die eindeutige, hochsignifikante Überlegenheit
der Verhaltentherapie stellt Grawe in seiner Metaanalyse auch gegenüber der
Gesprächspsychotherapie fest.
[84] „Menninger-Studie“ (Wallenstein, 1986, 1989)
[85] Grawe zitiert in „Psychotherapie im Wandel (1994)
Otto Kernberg (1973): Wenn langjährige Psychoanalysen überhaupt für jemanden
besonders geeignet sind, dann für besonders ich-starke und gesunde Patienten.
[86] Grawe begreift eine Störung als ein emergentes
Phänomen mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, welches störungsspezifische Maßnahmen
erfordert. Störungsspezifische Manuale haben den Vorteil, dass sie viel
empirisch gewonnenes, überindividuell gültiges Wissen über die
Kontrollparameter der Störung und die Einflussmöglichkeiten enthalten
(Reinecker 1994, Margraf 1996, Schulte 1996). Z.B. bei Anorexie ist es
essentiell, die auf die Nahrungsaufnahme bezogene Kontrollparameter zu
behandeln (Herzog, Hartmann und Falk, 1996). Erst nach Anwendung von verhaltenstherapeutischen
Vorgehensweisen, die das Essverhalten direkt beeinflussen, stieg die
Erfolgsrate (bezogen auf eine befriedigende Gewichtszunahme) einer zunächst nur
pschodynamischen Therapie von 25 auf 70% an. Anders bei Bulimie:
Kognitiv-behaviorale und interpersonale Therapie wirken auf das Essverhalten
gleich gut. Bei Bulimie ist es offensichtlich nicht zwingend notwendig, das
Essverhalten gezielt zu verändern. Es gibt offensichtlich noch andere
Kontrollparameter, über die Einfluss auf das Essverhalten ausgeübt werden kann.
[87] Z.B. korreliert die Häufigkeit von Übertragungsdeutungen
negativ mit der Qualität der Therapiebeziehung und den Therapieergebnissen
(Piper 1991).
[88] Boessmann (2000)
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Dr. med. Udo Boessmann
Kapellenstr. 35
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Kontakt:
E-Mail: udo.boessmann@web.de
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Fax: 0611 6000 884
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